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Beschwerden gegen das Verhalten natürlicher Einzelpersonen oder privater Organisationen sind nicht statthaft. Dass (auch) Private an einer eingriffsrelevanten Maßnahme beteiligt sind, schließt die staatliche Verantwortlichkeit für ihre Folgen aber dann nicht aus, wenn das private Handeln staatlich veranlasst ist oder gegenüber dem staatlichen Anteil oder Einfluss an der Gesamtsituation in den Hintergrund tritt.[12] Ohne eine solche staatliche Veranlassung oder Einflussnahme kann ein Handeln Privater nur dann Gegenstand einer Individualbeschwerde sein, wenn der Konventionsstaat, gegen den sich die Beschwerde richtet, eine (positive) Schutzpflicht zur Verhinderung des mit dem privaten Handeln verbundenen „Eingriffs“ in die Rechtssphäre des Bf. hat.[13]
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Auch Rechtsakte der EU konnten bisher nicht unmittelbar Beschwerdegegenstand eines Verfahrens von dem EGMR sein, obwohl die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und aus den allgemeinen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten ergeben, gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bindungswirkung für die Union entfalten. Da die EU nicht Mitglied des Europarats ist und daher der EMRK nicht beitreten konnte (vgl. Art. 59 Abs. 1 EMRK a.F.),[14] ist sie bis zu einem, nach dem Inkrafttreten des 14. P-EMRK am 1.6.2010 jetzt möglichen Beitritt, nicht direkt an die EMRK, sondern an die durch die Rechtsprechung des EuGH – u.a. aus der (bis 2009 rechtlich formal unverbindlichen) EU-Charta der Grundrechte[15] – entwickelten Unionsgrundrechte gebunden.[16] Mit dem ablehnenden Gutachten des Plenums des EuGH aus dem Jahr 2014 scheint der Beitritt jedoch wieder in weite Ferne gerückt.[17]
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Andererseits sind die Vertragsstaaten der EMRK für Handlungen verantwortlich, die sie in Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen oder im Zusammenhang mit solchen Verpflichtungen übernommen haben (Matthews).[18] Deshalb sind die EU-Mitgliedstaaten – als Mitglieder des Europarates und Unterzeichner der EMRK – (zusätzlich) unmittelbar an die Garantien der EMRK gebunden, unabhängig davon, ob sie nationales, EU-Recht oder sonstiges internationales Recht umsetzen oder anwenden. Die Umsetzung und Ausführung von Unionsrecht auf nationaler Ebene ist also über eine „mitgliedstaatliche Anknüpfung“ auch durch den EGMR überprüfbar.[19] Wie eng der EGMR diese Anknüpfung zukünftig interpretieren wird, lässt sich derzeit noch nicht abschließend beurteilen. Eine Analyse der bisher ergangenen Urteile des EGMR mit Unionsrechtsbezug lässt durchaus den Schluss zu, dass der EGMR den Vertragsstaaten unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein konventionswidriges Handeln von Organen der Union (z.B. die Missachtung von Verfahrensgarantien durch den EuGH) zurechnet.[20]
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Im Urteil Bosphorus hatte der EGMR allerdings noch eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt und betont, dass der Schutz der Menschenrechte durch das Unionsrecht in einer der EMRK entsprechenden Art und Weise gewährleistet sei (equivalent), solange nicht offensichtliche Mängel zu Tage träten (manifestly deficient).
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Davon wird aber wegen der wechselseitigen Beeinflussung der beiden Gerichtshöfe bei der Auslegung der Garantien der EMRK bzw. der Unionsgrundrechte durch den EuGH – die daraus resultiert, dass beide Gerichtshöfe auf die Rechtsprechung des jeweils anderen Bezug nehmen[21] – kaum je auszugehen sein. Der EuGH fügt die Unionsgrundrechte und rechtsstaatlich gebotenen Verfahrensgarantien – unter Berufung auf die EMRK und die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle – als allgemeine Rechtsgrundsätze ins primäre Unionsrecht ein,[22] bzw. zieht die EMRK als Auslegungshilfe für die Charta der Grundrechte heran.
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Daraus wird man folgern können, dass ein Staat (grundsätzlich) nicht dadurch gegen die Konvention verstößt, wenn er zwingende rechtliche Vorgaben des Unionsrechts in sein nationales Recht implementiert.[23] Besteht dagegen für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung und Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben ein gewisser (Ermessens-)Spielraum, so nimmt der EGMR eine vollumfängliche Überprüfung der mitgliedstaatlichen Maßnahme am Maßstab der EMRK vor.[24] Die Vermutung der Übereinstimmung mit der Konvention besteht dem EGMR zufolge ebenso nicht, wo mitgliedstaatliche Gerichte es unterlassen, zur Klärung der Menschenrechtskonformität des Sekundärrechts den Fall dem EuGH vorzulegen; für diese Fälle besteht der Gerichtshof auf seiner Prüfungskompetenz.[25]
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Auch außerhalb des Unionsrechts dürfen die Vertragsstaaten der EMRK durch den Abschluss internationaler Verträge und der damit verbundenen Übertragung von Hoheitsrechten keine konventionswidrigen Zustände schaffen. Ist allerdings ein Handeln staatlicher Stellen effektiv einer internationalen Organisation zuzurechnen (z.B. den UN), die selbst nicht Vertragspartei der EMRK sein kann, so ist eine Zuständigkeit des EGMR ratione personae zu verneinen.[26]
3. Zeitliche Anwendbarkeit der EMRK (ratione temporis)
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Der Gerichtshof ist für die Untersuchung eines ihm vorgelegten Sachverhalts nur zuständig, wenn das den behaupteten Konventionsverstoß verursachende Ereignis (fact constitutive of the alleged interference) zu einer Zeit eingetreten ist, zu der die Konvention bzw. eines ihrer Zusatzprotokolle für den betroffenen Vertragsstaat bereits in Kraft getreten war.[27]
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Stichtag für die Geltung der EMRK im (alten) Bundesgebiet ist der 3.9.1953 (1. ZP: 13.2.1957; 4. ZP: 1.6.1968; 6. ZP: 1.8.1989; 13. ZP: 1.2.2005. Für Deutschland noch nicht in Kraft getreten sind das 7. und 12. ZP (beide gezeichnet).[28]
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Die Zuständigkeit des EGMR ergibt sich nicht daraus, dass der Bf. ein Verfahren wegen der in Frage stehenden Handlungen angestrengt hat, das bei Beitritt noch nicht erledigt ist bzw. erst danach eingeleitet wird.[29] Allerdings kann ein nationales Urteil selbst unter gewissen Umständen einen Verstoß gegen die Konvention darstellen, allerdings nur, wenn der Vorwurf darüber hinaus geht, dass die vor Inkrafttreten der EMRK erfolgten Eingriffe bestätigt oder gutgeheißen werden.[30] Die Ratifizierung der EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten allerdings nicht, begangenes Unrecht bzw. einen Schaden wiedergutzumachen, der vor der Ratifizierung der Konvention eingetreten ist. Eine nach dem Inkrafttreten der Konvention ergehende Entscheidung eines nationalen Gerichts, die den eigentlichen Eingriff in ein Konventionsrecht (fact constitutive of the alleged interference) bestätigt, vermag die Prüfungskompetenz des Gerichtshofs nicht zu eröffnen.
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Auch die Vollstreckung eines vor dem Beitritt zur Konvention ergangenen Urteils eröffnet nicht den Anwendungsbereich der Konvention, sofern nicht in diesem Vorgehen eine sich (täglich) neu ereignende Konventionsverletzung zu sehen ist.[31]
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Wird eine staatliche Maßnahme allerdings erst nach bzw. durch den Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens endgültig (i.S.v. wirksam, definitive act), kann das letztinstanzliche Urteil ebenfalls einen – in zeitlicher Hinsicht