Rüdiger Zynmer übernimmt Hempfers Ansatz typologisch zu erfassender „Schreibweisen“. Typologisierende Literaturwissenschaftler, schreibt Zymner, fassen „nicht die ,Welt der Literatur‘ und ihre allgemeinen Gruppen ins Auge, sondern zunächst einmal das besondere Einzelwerk, um von hier aus ,das Ganze‘ der Literatur zu erfassen.“85 Nach Zymner könnten sich „Schreibweisen“ zu manchen Zeiten zu Gattungen stabilisieren, die ganz deren ästhetischem Prinzip oder Verfahren folgen. Als Kriterium zur Unterscheidung von „Schreibweisen“ dient Zymner dabei der Begriff der „Wirkungsdisposition“. So seien sie weder auf den Stil, noch auf inhaltliche Vorgaben zu begrenzen, sondern verbänden unterschiedlichste literarische Mittel mit einer Funktion oder Wirkung, wie etwa, einen Leser in Staunen zu versetzen oder zum Lachen zu bringen, oder jemanden herabzusetzen.86 Auch im Falle des ,Essayistischen‘ wäre meiner Ansicht nach ein Set aus Wirkungsdispositionen durchaus vorstellbar, auf die ich an dieser Stelle aber nicht genauer eingehen werde. Angedeutet sei lediglich eine im Sinne Lyotards ,paralogistische‘ Funktion, die den Text legitimiert, insofern er neue Ideen hervorbringen kann, oder Adornos bekannte Charakterisierung ,des Essays‘ als die Form der Kritik par excellence.87
Eine Typologie ist jedoch ein problematisches Unterfangen: denn sie sähe vor, die am konkreten Textbeispiel zusammengetragenen Merkmale als „Schreibweise“ zu objektivieren. Eine spezifische „Schreibweise“ ließe sich nach Zymner durch Überspitzung und Isolierung bestimmter Merkmale bilden.88 Genau diese Art der Objektivierung ist es jedoch, die für das ,Essayistische‘ immer heikel erscheint. Die Idee eines ,Essayistischen‘ allgemein als historische Invariante zu beschreiben, mag sinnvoll sein; doch lässt es sich nicht ganz mit Hempfers „Schreibweisen“ erfassen. Denn obgleich Hempfer sie über eine spezifische Relation ihrer Elemente und damit dynamisch konzipiert, erscheinen sie in letzter Konsequenz eindeutig festlegbar. Gerhard Haas, der den Begriff des Essayistischen in die Diskussion einführt, folgt ebenfalls einem entsprechenden Ansatz. Für ihn steht fest: „[G]ibt es eine solche unverwechselbare Struktur des Essayistischen nicht, so ist es fragwürdig, mit dem Begriff des Essay wissenschaftlich zu arbeiten.“89 Dabei ist es doch gerade die Verwechselbarkeit mit anderen Strukturen, die das Phänomen wissenschaftlich so interessant macht. „Schreibweisen“, so Hempfer, können durch die Beschreibung der Relationen ihrer Elemente „definiert“ werden. Für historische Gattungen seien „Transformationsregeln“ aufzustellen. Die dafür verwendeten Kriterien seien einer „Systematisierung“ zu unterwerfen.90
Definition, Regelhaftigkeit, Systematisierung, Kategorisierung und Sub-Subkategorisierung – es stellt sich die Frage, ob das ,Essayistische‘ ausgerechnet mit einem terminologischen und methodischen Repertoire erfasst werden sollte, dem es sich am meisten widersetzt. Obwohl Hempfer seine Untersuchungen nicht auf ein ,Essayistisches‘ ausgerichtet hatte, müssen ihn selbst dennoch Zweifel über sein Vorhaben beschlichen haben; das zeigt sich, wenn er etwa erklärt, zumindest für den diachronen Zusammenhang der Texte seien „keine strikten, deterministischen Gesetze zu formulieren, aus denen der Wandel deduktiv-nomologisch zu erklären wäre“.91 Die bisherigen Versuche stellten spekulative Pseudoerklärungen dar. Als Ergebnis seiner Untersuchungen präsentiert Hempfer eine Beobachtung, die im Ansatz auch für eine Beschreibung des ,Essayistischen‘ durchaus praktikabel wäre: Aufgrund der empirischen Gegebenheiten erscheine „als allgemeines Entwicklungsprinzip nur die Dialektik von Genese und Struktur angebbar, die einen nicht deterministischen, teleologiefreien Prozeß der Destrukturation existenter Strukturierungen und der Restrukturierung neuer Ganzheiten konstituiert […].“92 Dabei ist es aber gerade jener Zwischenraum, der zumindest im Fall eines ,Essayistischen‘ zu untersuchen wäre und den Hempfer lediglich mit der Ellipse einer ,Dialektik‘ umschifft. Dynamisch ist an seinem Konzept nur noch der ursprüngliche Einfall. Die „Schreibweise“ verliert sich in einem ,regressus ad infinitum‘, bei dem sich das Dynamische jeweils in die nächst tiefer liegende Schicht oder in die stärkere Mikroskopstufe verschiebt. Eine solche Dynamik ist nichts als ein Lückenbüßer für (noch) Unerklärliches. Es ginge darum, die Bewegung als Bewegung zu denken, und nicht als eine Reihe statischer Momentaufnahmen.
1.4 Eine Problematik der Formwerdung
Sowenig aussichtsreich ein rein definitorischer Zugriff auf ,den Essay‘ ist, so fragwürdig erscheint auch die wissenschaftliche Beurteilung einer ,inneren Einstellung‘ und ,Essenz‘ eines Autors,93 die ,den Essay‘ in eine Reihe bloßer Akzidenzien verstreut. Das ,Essayistische‘ als historische Invariante mit einer großen Möglichkeit historischer Konkretisierungen zu betrachten erscheint methodisch plausibel, auch wenn es sich nicht als „Schreibweise“ im Sinne Hempfers definieren lässt: Ein Essay wird wohl ohnehin niemals alle isolierten Merkmale des ,Essayistischen‘ auf sich vereinigen. Dazu können keine adäquaten Kriterien zur objektiven Bestimmung von Textkorpora genannt werden. Hempfer will seine Untersuchungen im Sinne einer Formulierung Petöfis verstanden wissen, der in einer lakonischen Bemerkung nicht mehr von der Theorie erwartet, als dass es ihr allmählich gelänge, die „relevanten Fragen“ zu stellen.94 Ich würde dagegen Richard Rorty folgen, der vorschlägt, mit alten Dingen aufzuhören und lieber „etwas anderes“ zu tun und die traditionellen Fragen durch „möglicherweise interessantere Fragen zu ersetzen“.95 Daher schlage ich vor, den Blick sowohl weg vom Essay als Gattung, als auch von der reinen Geisteshaltung, und ebenso von der „Schreibweise“ zu richten – denn all dies folgt einem Denken des fertigen und abgrenzbaren ,Produkts‘. Bereits Juan Marichal hatte sich bei der Betrachtung von Essays für eine dynamischere Herangehensweise ausgesprochen. Seiner Auffassung nach habe man es mit einer „literarischen Operation“ zu tun. Es gehe mehr um ein ,Wie‘ als um eine bezeichnende Haltung.96 Zentral erscheint auch für mich die Frage nach jenem Raum zwischen ,Essay‘ als Geisteshaltung und/oder Schreibweise auf der einen Seite und ,Essay‘ als Form, auf der anderen; zwischen ,mode‘ und ,genre‘.
Wie aktualisiert sich jener „essayistische Geist“? Peter Zima schlägt folgende Aspekte vor, die wieder im Anschluss an einen Postmoderne-Begriff lesbar wären: Konstruktivismus und Perspektivismus, die auf ein Kontingenzbewusstsein