Der Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des ,Essayistischen‘ als Geisteshaltung löst die Bestimmung einer Reihe von Merkmalen aus, die sich in ihrer Mehrheit um das Schlagwort des Postmodernen gruppieren. Tatsächlich hatte Lyotard, als er den Begriff der Postmoderne prägte, ähnliche Assoziationen. „Mir scheint“, schreibt er in Postmoderne für Kinder (Le postmoderne expliqué aux enfants), „daß der Essay (Montaigne) postmodern ist und das Fragment (das Athenäum) modern.“64 Obwohl Lyotard selbst seine Vermutung nicht weiter ausführt, lässt sie wertvolle Rückschlüsse zu. Das ,Essayistische‘ reiht sich nicht ein in die großen Welterklärungssysteme. Nach Lyotards viel zitiertem Zusammenbruch der Metaerzählungen bildet fortan die ,kleine Erzählung‘ einen Legitimationsmodus eines postmodernen Wissens.65 Essayistisches Schreiben als fragmentartige oder nicht erschöpfende ,kleine Erzählung,‘, die eng mit einer perspektivischen sozialen Konstruktion von Realität in unserer Kultur zusammenhängt66 und die ihre Legitimation in sich selbst sucht, ist schon sehr nah an dem, was Lyotard unter dem Schlagwort der Postmoderne vorgestellt hatte. Dabei wird mit der Erwähnung des Postmodernen hier vor allem ein Aspekt des ,Essayistischen‘ eingeholt, den schon Georg Lukács beobachtet, wenn er schreibt: „Tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richtens erschaffen, doch ist er es nicht, der sie zum Leben und zur Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik, der immer Kommende, der noch nie Angelangte.“67 ,Der Essay‘ predigt immer das Kommende, doch mit dessen tatsächlicher Ankunft wäre er überflüssig geworden. Er ist daher, wie Lukács sich ausdrückt, „der reine Typus des Vorläufers“.68 Auch Gerhard Haas betont diesen Aspekt übereinstimmend. So sei jede Form des Essays „Vorform“ in dem Sinn, dass ein formales Ruhen im Vollendeten niemals erreichbar sein kann.69 Claire de Obaldia bemüht in diesem Zusammenhang den Begriff der „not yet literature“70, den sie von Alistair Fowlers Konzept der „literature in potentia“71 herleitet. Obaldia bezieht sich in erster Linie auf die Tatsache, dass das ,Essayistische‘ gewissermaßen einen Bodensatz ideeller und stilistischer Art bildet, von dem ausgehend sich literarische Werke entwickeln. In jenem ,not-yet‘, das den essayistischen Ausdruck charakterisiert, schwingen die Aspekte der Möglichkeit als Mutmaßung und Potenz mit: Einerseits stellt ein/e Essayist/in eigene Aussagen immer unter einen Vorbehalt, tätigt sie also nicht apodiktisch, sondern belässt sie im Bereich eines lediglich möglicherweise Richtigen. Andererseits geht es auch darum, die Aussage durch die Fülle weiterer denkbarer Möglichkeiten zu erweitern. Gerhard Haas prägt für das ,Essayistische‘ daher den Begriff der „Möglichkeitsaussage“, die er als „Kern alles essayistischen Denkens und Produzierens“ bezeichnet.72 Montaigne und seine Nachfolger seien Autoren des Wiedergelesenwerdens, weil bei ihnen im Hintergrund des Gesagten das Ungesagte oder halb Gesagte mitschwinge, das weitere Möglichkeiten offenhalte. Insofern ist das ,Essayistische‘ eine Operation, die Sensibilitäten für dieses Nicht- oder Halbgesagte entwickelt – eine Empfindsamkeit, die sich mit einem zentralen Paradigma des Poststrukturalismus deckt. Die essayistische „Möglichkeitsaussage“ vereint, genau genommen, diese beiden eben geschilderten und einander widersprechenden Aspekte: einerseits die radikale Skepsis, die sich zuweilen dem Vorwurf eines „Erkenntnisnihilismus“73 aussetzt, und andererseits das Streben nach einer „intensiveren Wahrheit“: Obaldia spricht angesichts der Abkehr von rein mimetischen Verfahren und der Hinwendung zur Imagination von einer Wahrnehmung des „Potenzials“ der Realität und einer „more intense perception of truth“.74 Diese Formulierung leitet sie von William Hazlitt ab, nach dessen Wort ein Essayist die „Essenz“ seines Gegenstandes zum Leben erwecken müsse, „in a way that yields a more intense sense of truth than would a simple description“.75 Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen und bildet meiner Ansicht nach jene Aporie, die für die paradoxe Grundstruktur des Essayistischen, sowie für die Oszillationen des Geistes zwischen Tragik und Ironie ausschlaggebend ist. Nun ließe sich die Formulierung von Aporien als postmoderner Modus beschreiben, genauso wäre es jedoch möglich, im Streben nach intensiveren metaphysischen Wahrheiten jene „Nostalgie“ zu erkennen, mit der Lyotard die Moderne kennzeichnet.76 Der Begriff der Postmoderne ist so unklar und vielfältig, dass man eher spielerischen Umgang damit pflegen sollte. Brian McHale bringt dies auf die anschauliche Formulierung: „The literary historian as a performance-artist, rather than as policeman.“77 Da sich freilich nur schwer mit einem solchen Begriff arbeiten lässt, will ich ihn hier auch nicht extensiv bemühen. Als Geisteshaltung scheint das ,Essayistische‘ jedoch mit der Vorstellung einer Postmoderne zumindest eng verwandt: Es entspricht einer Sensibilität für das Differente, Abwesende, Vergessene oder gesellschaftlich Verdrängte, das strategisch durch einen Modus der Möglichkeitsaussagen eingeholt werden soll. Damit werden Formen der Legitimierung des Wissens erkundet und angewandt, die jenseits metaphysischer und wissenschaftlicher Systeme liegen.
1.3 Das ,Essayistische‘ als Schreibweise?
Betrachten wir das ,Essayistische‘ ausschließlich als Geisteshaltung, die einzigartige, nicht formalisierbare Formen hervorbringt, stehen wir allerdings vor einem logischen Problem. Denn damit wäre nicht zu erklären, warum im Laufe der Zeit Texte so unterschiedlicher Art immer wieder unter dem Titel ,Essays‘ vereint worden sind. Die absolute Singularität, sagt Derrida gegenüber Dereck Attridge, wäre ohnehin unlesbar. „Um lesbar zu werden, muss sie sich mitteilen, partizipieren und eine Zugehörigkeit entwickeln. […] Jedes œuvre ist singulär in dem Sinne, dass es auf singuläre Weise sowohl von seiner Singularität als auch von seiner Verallgemeinerbarkeit spricht. Von Iterabilität und dem Gesetz der Iterabilität.“78 Das Problem, das Derrida hier unter dem Begriff der Iterabilität fasst, entspricht auch einer Grundproblematik der Gattungstheorie, wie Klaus Hempfer sie skizziert und die in einer Notwendigkeit der Wahl zwischen überzeitlicher und rein historischer Bestimmbarkeit des Gattungshaften besteht.79