Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veit Lindner
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303381
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Damit erst zeigt sich das ,Essayistische‘ als wahrer Transgressionsmodus. Die Radikalität, welche die poetischen Essays in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entfalten, liegt dabei zusätzlich noch auf einer Invertierung der Elemente, welche die diskursumwälzende Kraft des ,Essayistischen‘ zusätzlich betonen: Denn während die Dichtung bei Montaigne eher noch als erneuernder Impuls für die logischen Strukturen des Denkens hervortritt, wird sie nun extensiv und greift auf das Ganze des Textkörpers über. Aus der ,estructura lógica que se pone a cantar’ wird eher eine ,estructura lírica que se pone a filosofar‘.

      Für die Erneuerung lateinamerikanischer Essayistik beobachtet Jaime Alazraki drei Stoßrichtungen im 20. Jh. und macht die jeweiligen Entwicklungen anhand dreier Autoren fest: Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Octavio Paz: Borges, der sein Material nach Maßgaben der kurzen Erzählung, des ,cuento‘, strukturiert und ihm dadurch eine relativ feste Form verleiht; Cortázar, der sein essayistisches Werk, paradigmatisch in Rayuela, als ,novela‘ organisiert. Damit komme Cortázar Musils Vorstellung des Essayismus, als Form, die das Innenleben einer Person in ihrem Denken ausdrücke, am nächsten.115 Er habe die essayistische Prosa dabei zusätzlich im Sinne eines mündlichen Stils verändert. Octavio Paz wiederum habe, und dies ganz besonders in El mono gramático, ein Projekt der Versöhnung zwischen Essay und Poesie verfolgt und einen Essay mit poetischen Funktionen oder ein Gedicht mit essayistischen Funktionen geschaffen.116

      Diese Einordnung literarhistorischer Entwicklungen ist übersichtlich und durchaus plausibel; allerdings spricht auch Alazraki von Essay als fester Gattung. Borges, Paz und Cortázar zwängen ,den Essay‘, über seine eigenen Beschränkungen hinauszutreten.117 Wenn wir das ,Essayistische‘ aber als ohnehin transgressiv wirksame Praxis begreifen, ist Alazrakis Argumentation wenig zielführend, da nicht eindeutig ermittelt werden kann, worin jene generischen Beschränkungen (límites) bestünden. Es ist wenig überraschend, dass Alazraki in der Exposition seines Artikels Francis Bacon anführt, während er Michel de Montaigne nicht mit einem Wort erwähnt. Die Anerkennung einer entscheidenden Rolle der drei genannten Autoren als große Erneuerer des essayistischen Schreibens innerhalb einer grob gefassten ,Literarisierung‘ ist durchaus richtig. Doch eine ‚poetische Essayistik‛ als bloße Stilfrage klären zu wollen, als poetische Ausgestaltung eines essayistischen Texts, trifft nicht, was diese spezielle Essaykunst ausmacht. Ein Essay ist nicht einfach als formales Gattungsexperiment zu definieren; insofern kann eine ,poetische Essayistik‘ kein Sonderfall des ,Essayistischen‘ sein; vielmehr hat sie Anteil an ihm. Sie ist Ausdruck bestimmter Sensibilitäten, die das ,Essayistische‘ in einer besonderen Radikalität und Deutlichkeit hervortreten lassen. Man müsste die Frage nach den verschiedenen Ausprägungen des ,Essayistischen‘ anders stellen und sie als unterschiedliche Akzentuierung von Fragestellungen begreifen, die sich gleichzeitig als epochenspezifisch und geschichtsinvariant, als individuell und universell erweisen. Bei einer Betrachtung ,poetischer Essayistik‘ müssen wir also nicht nur stilistisch formale Besonderheiten in Augenschein nehmen, sondern vor allem versuchen, ihre tieferen Sensibilitäten zu ergründen. Aus welchen historischen Entwicklungen geht sie hervor? Auf welche Fragen versucht sie zu antworten?

      Die moderne Essayistik geht von Michel de Montaignes 1580 erstmals veröffentlichten Essais aus. Doch wie in ganz Europa, so gab es auch in Spanien bereits vor Montaigne eine Kunst des Aufsatzschreibens, geprägt vor allem durch den moralisch-religiösen Antimachiavellismus des Fray Antonio de Guevara oder durch die Abhandlungen über Gerechtigkeit von Luis Vives. Auch die starke Tradition der Mystiker um Fray Luis de León, San Juan de la Cruz, Santa Teresa und Fray Luis de Granada können als Vorläufer der modernen spanischen Essaykunst betrachtet werden.118 Juan Marichal spricht sogar von einem Ruf Spaniens als Mutterland der Essayistik, der in den Ursprüngen spanischer Kultur verankert sei. So erinnert Marichal etwa an das berühmte Wort Graciáns vom ,discurrir a lo libre‘ als genuin spanischer Eigenschaft und bezeichnet es als eine der Hauptachsen der Literatur- und Ideengeschichte spanischsprachiger Länder.119

      Der Begriff ,essay‘, oder ,essai‘, den Montaigne als Bezeichnung für seine besondere Form des Aufsatzes einführte, stammt von der lateinischen Vokabel ,exagium‘ (Versuch, Probe). Das daraus abgeleitete französische Verb ,essayer‘ bedeutet so viel wie ,untersuchen, abwägen‘ und impliziert die Haltung einer perspektivisch differenzierten Betrachtung eines Gegenstands. Die älteste bekannte Erwähnung des Wortes ,exagium‘ im literarischen Zusammenhang findet sich dabei nicht etwa im frühneuzeitlichen Périgord, sondern viel früher, im spanischen Mittelalter bei Gonzalo de Berceo, und zwar in der Bedeutung, die noch heute auf den Essay zutrifft, als Versuch und Abwägen, gerichtet an einen Leser oder eine Lesergruppe.120 So gab es in Spanien vor, aber auch nach Montaigne eine eigenständige und äußerst einflussreiche Tradition von ,Ideenliteratur‘, die im allerweitesten Sinn auch ein ,essayistisches Schreiben‘ umfasst. Erwähnt seien zum Beispiel politische Denker des 17. Jh. wie Diego de Saavedra y Fajardo, jesuitische ,tratadistas‘ wie Baltasar Gracián, der Kreis von Aufklärern um Benito Jerónimo Feijoo, José Cadalso und Gaspar Melchor de Jovellanos sowie später im 19. Jh. die Generation der liberalen ,costumbristas‘, allen voran José de Larra und deren konservative Antagonisten Jaime Balmes und Juan Donoso Cortés;121 nicht zu vergessen auch die ,krausistas‘ um Julián Sanz del Río und Francisco Giner de los Ríos.122

      Obwohl Spanien also auf ein sehr reiches Erbe expositorischer Texte blicken kann, setzt sich der Begriff ,Ensayo‘ als Äquivalent zu Montaignes ,Essay‘ erst spät, im 19. Jh. durch. Zwar hatte Diego de Cisneros das erste Buch der Essais bereits während der Jahre 1634–1936 übersetzt, und der Erste, der Montaigne voll Bewunderung zitierte, war kein Geringerer als Francisco de Quevedo. Diese erste Übersetzung ins Spanische war allerdings nicht unter dem Titel Ensayos, sondern als Experiencias y varios discursos de Miguel Señor de Montaña erschienen.123

      Im ausgehenden 18. und Anfang des 19. Jh. wird der Ausdruck ,ensayo‘ zunehmend in historiografischem Kontext verwendet, wie z. B. im Fall des etwas sperrigen Titels Ensayo histórico-crítico sobre la antigua legislación y principales cuerpos legales de los reinos de Aragón y Castilla (1808) von Francisco Martinez Marina.124 Die erstmalige Verwendung des Begriffs ,ensayo‘, der sich nicht als historisch-wissenschaftliche Studie versteht, sondern im Kontext der Literatur verwendet wird, datiert auf das Jahr 1818 und findet sich in einer Anthologie von Ángel Anaya: An essay on Spanish literature. Gegen Mitte des 19. Jh. noch steht der ,ensayo‘ nicht als literarische Textgattung für sich, sondern immer mit einem erklärenden Zusatz, wie die Ensayos literarios y críticos von Alberto Lista (1844) oder die Ensayos religiosos, políticos y literarios von Josep María Quadrado aus dem Jahr 1853. Erst mit den 1892 erschienenen Ensayos y revistas von Leopoldo Alas (Clarín) wurde der Zusatz ,literarisch‘ nicht mehr eigens für den Essay genannt.125

      Diese begriffliche Verzögerung ist kein spanischer Sonderfall, sondern eine Erscheinung, die ganz Kontinentaleuropa betrifft, denn die Breitenwirkung des Essays geht von Francis Bacon aus, was nicht zuletzt daran liegt, dass Montaignes Essais nach dessen Tod auf den vatikanischen Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden und außerdem die strengere Form Bacons in der französischen Klassik mehr Anklang fand. La Rochefoucauld und Pascal fanden ein größeres Publikum als Montaigne.126 So erschienen moralisch-didaktische Schriften aus Spanien in England unter dem Titel ,Essays‘, und in Spanien selbst triumphierte die Form des ,ensayo general‘, vor allem im 18. Jh. Diese Essayform ohne lyrisch-poetische Ambitionen zeichnet sich besonders durch eine an der Didaktik ausgerichteten Gelehrsamkeit127 aus und läuft damit Montaignes Intention prinzipiell zuwider. Nicht belehren, sondern erzählen will Montaigne.128 Diesem Zweck ordnet er seine Gelehrsamkeit unter.

      Trotz weit zurückreichender Tradition einer ,Ideenliteratur‘ existiert der ,ensayo‘, so wie er von Montaigne angelegt war, bis ins 19. Jh. nicht. Von einer Kontinuität seit Quevedo könne nicht die Rede sein, so Jordi Gracia und Domingo Ródenas im Vorwort zu ihrer breit angelegten Anthologie El ensayo español. Auf ihr zu bestehen und sie zu verteidigen hieße, eine Tradition zu erfinden.129 Gerade im Kreis der Aufklärer, unter denen man mit Autoren wie Feijoo bereits essayistisches Schreiben vermuten möchte, war die Skepsis gegenüber Montaigne groß. Das Urteil, das Antonio de Campany über die Essias spricht, spiegelt wohl eine damals gängige Einschätzung wider: Sie besäßen weder Reinheit noch