Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veit Lindner
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303381
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nach dem er ,den Essay‘ als alle Diskurse aufnehmenden und umgestaltenden Intertext fasst, skizziert Zima eine dialogische Theorie, in der sich eine ideologiefreie Kritik entfalten kann. Zima geht es allerdings weniger um eine Theorie des ,Essayismus‘, sondern vielmehr darum, ein „theoretisches Potenzial ,des Essays‘“ herauszuarbeiten und für eine dialogische Theorie nutzbar zu machen. Für ein Erfassen des ,Essayistischen‘ in seiner Dynamik zwischen Genese und Struktur und als Prozess von De- und Restrukturierung, möchte ich daher einem anderen Ansatz folgen: Mit einem Wort, das Linda Hutcheon für postmoderne Texte prägt, ließe sich dieser Zwischenraum weder als Prozess, noch als Produkt, sondern als „process of making the product“98 charakterisieren. Denn der Prozess des Schreibens erscheint im ,Essayistischen‘ nicht rein intransitiv, nicht teleologiefrei aufs Geratewohl, oder im Sinne eines postmodernen Verständnisses rein spielerisch. Er bezieht immer ein Objekt ein, das zu wissen gewesen wäre und in dem auch das Schreiben seine Erfüllung in der Form gefunden hätte.

      Das ,Essayistische‘ ist ,embodyment‘, ,Verkörperung‘, eine Problematik des Schreibens als Formwerdung, die sich in einer Problematik der Selbstwerdung des schreibenden Subjekts spiegelt. Typologisch lässt sich (wenn auch nicht erschöpfend) feststellen, dass sich diese Problematik in einer Reihe isomorpher Denkfiguren niederschlägt, die zwischen Konstruktion und Dekonstruktion changieren. Dazu gehören eine labile Metaphysik und eine ebenso labile Subjektkonstruktion. Diese Figuren konstituieren keine „Schreibweise“, sondern sind eingebunden in das Wirken einer ,Praxis‘, die jenen Zwischenraum von ,process‘ und ,product‘ als Aporie ausformuliert. Ich möchte daher das ,Essayistische‘ in seiner Dimension als ,Praxis‘ näher betrachten und diese als Suche nach einer ,möglichen‘ Form (sei es ein Wissen, das Subjekt, der gestaltete Text, oder die Wahrheit selbst) beschreiben, deren aporetische Struktur in den Metaphern von Weg und Lichtung evoziert wird. Die problematische ,Praxis‘ einer Formwerdung ist im Falle des ,Essayistischen‘, wie oben bereits erwähnt, verbunden mit einer ,Selbstwerdung‘ des schreibenden Subjekts. Zur Beschreibung dieser Bewegung schlage ich zwei mögliche Wege vor: Zunächst möchte ich versuchen, sie psychoanalytisch nach Lacan als ein Schreiben im ,Spiegelstadium‘ zu erfassen, das vor allem den Aspekt der ,Selbstwerdung‘ innerhalb eines dynamischen Wechselverhältnisses von Symbolischem und Imaginärem berührt. Zur Erweiterung der Diskussionsgrundlage will ich in dem Octavio Paz gewidmeten Analyseteil anschließend Julia Kristevas Begriff der „Textpraxis“ für das ,Essayistische‘ erproben und deren Operationen auf einer textuellen Tiefenebene sichtbar – oder hörbar – machen.

      1.5 Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘

      Im Hinblick auf die Problematik des wissenschaftlichen Umgangs mit dem ,Essayistischen‘ sind die Erfahrungen mit einem ,Performance-Begriff‘ wie dem der Postmoderne wertvoll: Das ,Essayistische‘, hatte Obaldia geschrieben, sei ein „writing before the genre, before genericness“. Dies entspricht einer der prägenden Erfahrungen aus dem Feld der Postmoderne: Sie berührt nicht nur eine Gattungsproblematik, sondern hat auch Konsequenzen, wenn es um die generelle Möglichkeit eines literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf das ,Essayistische‘ geht. In dem Sinn, in dem Lytotard die Postmoderne als der Moderne ,vorausgehend‘ lokalisiert, bilden Regeln und Kategorien keine präskriptiven Werte für die Konstruktion von Essays; diese sind vielmehr Objekt ihrer andauernden Suche. Die Metapher des Schreibens als (Um)Weg entfaltet ihre Wirksamkeit im Kontext des postmodernen Verständnisses der ,Suche‘. Ihre Bedeutung liegt in einem ,quest for knowledge‘99 selbst. Postmoderne Schriftsteller arbeiteten, so Lyotard, „um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“.100 Daher hätten diese Texte den Charakter eines Ereignisses; das heißt, für den Autor kommen die Regeln immer zu spät, beginnt ihr Werk immer zu früh. Es könne daher auch nicht nach fester Maßgabe beurteilt werden.101 Dieser Umstand macht eine ausschließlich literaturwissenschaftliche Herangehensweise umso schwieriger, und die Frage, ob sie überhaupt möglich ist, muss für mich in letzter Konsequenz zwingend offenbleiben. Die Diskussion darüber ist kein ketzerisches Störfeuer unakademischer Geister, sondern integraler Bestandteil einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Essays. Gerade in diesem Punkt kann und darf wissenschaftliche Erkenntnis nicht im Versuch bestehen, einen ,Schlussstrich‘ zu ziehen. Das heißt, wenn Literaturwissenschaft das Phänomen ,Essay‘ wirklich beschreiben will, kann sie dies nur mittels einer kritischen Beschäftigung mit ihrem eigenen Diskurs tun. Das ,Essayistische‘ ist in seiner Regellosigkeit vor allem textliches Ereignis: In dem Augenblick, in dem feste Beurteilungskriterien für die Texte angesetzt werden, ist das Ereignis schon vorüber. Studien, die ausschließlich versuchen, metasprachlich über einen Untersuchungsgegenstand zu verfügen, die eine solche Sprache ständig unterläuft, aber auch den Dialog mit ihr sucht, gehen am vielleicht ,wesentlichsten Punkt‘ des ,Essayistischen‘ schlicht und einfach vorbei. Mit den Worten Derridas: „Die Analyse von Mehrdeutigkeit, Heterogenität oder Instabilität entzieht sich per definitionem jeder endgültigen Schlussfolgerung und jeder erschöpfenden Formalisierung.“102 Das ,Essayistische‘ muss in seiner ,Bewegung‘ betrachtet werden, und dies lässt sich nicht nur anhand dynamischer Beschreibungsmittel bewerkstelligen, sondern es muss auch selbst in gewissem Umfang performativ sein, das heißt, es muss die Bewegung seines Gegenstands in seine eigene Methodik mit aufnehmen, sie in gewissem Maße spiegeln. Wolfgang Müller-Funk schreibt gar: „Es würde dem Thema widersprechen, wollte man es global ,bewältigen‘: eine Theorie des Essayismus will essayistisch vorgetragen sein, zwischen Erzählung und Abstraktion hin- und herpendelnd, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Umkreisung, Abwägung, Versuch, Mosaik, Fragment.“103 Dem schließe ich mich zumindest teilweise an. Eine Theorie des ,Essayistischen‘ darf freilich kein Essay sein, muss aber auf gewisse Elemente des Essayistischen zurückgreifen und sie in den wissenschaftlichen Diskurs integrieren. Für eine theoretische Annäherung an das ,Essayistische‘ halte ich daher vor allem Theorien für hilfreich, die sich im Umfeld des Poststrukturalismus oder, weiter gefasst, der ,Tel-Quel-Gruppe‘ bewegen. Sie besitzen häufig selbst jenen Ereignischarakter und reflektieren ihr ,Ereignis‘ metadiskursiv mit. Dabei entwerfen sie ein großes Repertoire von Beschreibungsmitteln für Texte, die in ähnlicher Weise performativ funktionieren: Essays.

      Die Bildung eines Textkorpus stellte ein spezifisches Problem für meine Arbeit dar, und die Frage, ob und auf welche Weise sich bestimmte Texte im Licht eines ,Essayistischen‘ als performativer ,Praxis‘ betrachten lassen, wirft im Grunde erneut die Frage nach Subordination und genereller Kategorisierung auf. Gerade die hatte man jedoch vermeiden wollen. Es mag vielleicht verwundern, dass die Wahl mit María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático ausgerechnet auf Texte gefallen ist, deren Bezeichnung als ,Essays‘ nicht vollkommen unstrittig sein mag – oder wenigstens unerwartet. Sie entbehren vielleicht eines Exemplarischen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand; zumindest wenn wir darunter das Vorhandensein einer möglichst breiten Schnittmenge an Textmerkmalen verstehen, die sich insgesamt für das ,Essayistische‘ ermitteln ließen. Darüber hinaus nehmen sie innerhalb des Œuvre der beiden Autoren eine gesonderte Stellung ein.104 Doch essayistische Texte verweigern ohnehin jeden Charakter des Exemplarischen. Vielmehr, denke ich, sind sie innerhalb von Strukturen zu betrachten, die Walter Benjamin als „Konstellationen“ beschreibt: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Phänomene Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“105 Übertragen auf den Kontext dieser Studie, heißt das: Es kann nicht darum gehen das ,Essayistische‘ zu bestimmen, um davon ausgehend abzuleiten, nach welchen Gesetzen essayistische Texte funktionieren. Auch können die Einzeltexte als Phänomene nicht Zeugnis für die Existenz des ,Essayistischen‘ ablegen. Die Phänomene, schreibt Benjamin, bestimmten durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen die Begriffe, mit denen sie erfasst werden können. In diesen Begriffen besteht ihre Bedeutung für die Idee. Umgekehrt erscheint die Idee bei Benjamin als Interpretation der Phänomene und ihrer Elemente, die erst durch ebendie Idee – wie die Sterne in den Sternbildern – ihre Zusammengehörigkeit erhalten. Essays und das ,Essayistische‘ können also nur gemeinsam