Bis heute nährt sich essayistisches Schreiben von der paradoxen wie utopischen Vorstellung, sich auf die Bücher zu stützen, um die Bücher zu mindern und das Wissen zu mehren. Dieser Art der Gelehrtenkritik wohnt ein Element intellektuellen Biblioklasmus' inne, der zum essayistischen Topos geworden ist. Er folgt einem Ideal der moralisch-ästhetischen Gestaltung des eigenen Lebens; essayistisches Schreiben ist daher immer auf das schreibende Subjekt bezogen. Es folgt einer Ästhetik der Reinheit und einem Ethos der Befreiung und der Läuterung: Ein Essayist, eine Essayistin schreibt über Bücher, nicht um sie zu interpretieren, sondern um sich von ihnen zu befreien und sich eine reinere Existenz zu verleihen.
Als Mittel dazu dient ihm oder ihr die Schaffung eines Nichtbuchs; eines amorphen Texts, der sich einer abgeschlossenen Systematik entzieht. Denn auch wenn sich die intellektuelle Kritik in Qualität und Motiven wesentlich vom plumpen Ressentiment des Illiteraten gegen das ,Kulturgeschwätz‘ unterscheidet – beide verbindet durchaus die Abneigung gegen eine empfundene Versteinerung im Systemhaften, das der eine als Abkehr von der Lebensfreude und elitäres Kontrollinstrument und der andere eher als bloße Wiederholung eines je schon Gewussten verurteilt. Beide richten sich argwöhnisch gegen die Implementierung einer Autorität, die sich auf das bloße Gewicht des schon Dagewesenen und Gesagten stützt. Und so findet Montaignes Polemik gegen das Anhäufen von Zitaten auf Kosten einer gesunden Dosis Intuition eine ungebrochene Fortsetzung bis in unsere Zeit, wenn etwa de la Flor irrtümlicherweise feststellt, die Implementierung eines Diskurses, der keine Ideen mehr, sondern Zitate enthält, sei ein spezifisches Übel unserer Tage.5 Auf diese Weise würden die Universitäten zu Verteilstationen von Sekundärliteratur und zu „fabricas pesadas del pensamiento“6 – in freier Übersetzung: zu lästig langweiligen Fabriken gewichtiger Gedanken. Der Vorwurf der Erstarrung richtet sich besonders gegen die Institutionalisierung des Wissens und die Heraufkunft eines Typus, der, so der Vorwurf, seine Lektüren nicht mehr kostet und schmeckt, sondern nur noch wiederkäut. De la Flor spricht von der „Perversion der Idee von Wissen, reguliert von einem Mechanismus der Gelehrsamkeit“.7
Zu den Aspekten der schieren Masse und des Wiederholungscharakters des Systemhaften tritt aber noch ein dritter Vorwurf: nämlich der Versteinerung der Sprache selbst. Der Eindruck, wir beträten ein Zeitalter einer „verfallenen Sprache“,8 wurde im Verlauf der vergangenen 450 Jahre gewiss immer wieder auf verschiedene Weise formuliert. Er entspricht der Beobachtung einer mangelhaften Transzendenz von Sprache, die als tiefe Verlusterfahrung zum biblioklastischen Repertoire gehört. Dabei wird besonders dem akademischen Diskurs angelastet, diesen Verlust zu vertiefen. Der Jargon der Wissenschaft wird zu einem Instrument des bürokratischen, ja beinahe prüden Eifers, der die produktiven erotischen Exzesse der Sprache abtötet oder unter die Kontrolle des Vorhersehbaren und unter die Verwaltung des Dokumentierbaren zwingt. Die universitären Exklusionsmechanismen verschließen sich dabei selbst gegenüber ihren Quellen: „Die entfesselte Sprache wird heute, ohne Stütze durch das Textdokument, in ebendiesem akademischen Umfeld als das Wort eines Verrückten wahrgenommen.“9 Der Protest gegen die akademisch vorangetriebene Erstarrung der Sprache richtet sich dabei heute nicht nur gegen ein vorgegebenes Wissen durch eine autoritäre Zitierpraxis, sondern gegen jede Art (vor)programmierter Codes. Denn die Sprache, durch die wir die Welt vernehmen wollen, zeigt sich darin als ausweglose Ödnis, was uns zu Richard Rortys Beobachtung führen könnte: „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen.“10 Und das, so ließe sich hinzufügen, nicht besonders gut.
Biblioklasmus entspringt der Erfahrung einer Stummheit der Sprache in der Moderne. Es ist die Erfahrung, dass Sprache über Wesentliches zu schweigen beginnt, sobald wir sie zur Eindeutigkeit dressieren: Je exakter die Definitionen, desto aussageloser, folgenloser bleibt sie mitunter. Die Ambivalenz der Sprache lässt uns taumeln zwischen dem Ozean der Inkommensurabilität und den Wüsten der Präzision. Und so ist die moderne Erfahrung mit der Sprache die einer Heimatlosigkeit und des Exils; dass wir nicht zurückkönnen in das Haus der Sprache, in dem wir atmen können und dessen Herr wir sein dürfen. Wozu also Bücher?
In einem solchen Moment der Ratlosigkeit macht Hans Blumenberg den „Staub auf den Büchern“ sichtbar: „sie sind alt, stockfleckig, riechen modrig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruß, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich.“11 Der Staub auf den Büchern ist Ausdruck einer Krise, welche die Geschichte des Humanismus und des modernen Wissens begleitet. Er ist aber auch eine sehr persönliche und zugleich universelle Erfahrung derer, die sich mit Büchern beschäftigen – ganz gleich, ob mit literarischen oder wissenschaftlichen: Immer wieder stehen wir vor den ausgefransten Überresten eines wirkungslos gewordenen Wissens und einer kraftlos gewordenen Sprache. Dann erkennen wir in uns Montaignes Maus im Pechfass, die dem Hoffnungsschimmer einer Erkenntnis nachläuft, sich dabei nur im Kreis dreht, windet und schließlich in der klebrig zähen Masse ersäuft.12
Inmitten der Agonie durch die fortgesetzten Enttäuschungen taucht vielleicht die Frage auf, was überhaupt enttäuscht worden ist, und es setzt ein anderes Schreiben ein, das eigentlich mehr ein Innehalten ist; ein Zulassen der Stille und der Leere. Es eröffnet einen Raum, in dem Montaignes Maxime als Impuls der inneren Sammlung erscheint: „Que scay-je?“ – was weiß ich? Ebenso wie: Kann ich überhaupt zu wissen hoffen? Die Erfahrungen aus den Jahrhunderten des Umgangs mit der Erkenntniskritik haben Montaignes ambivalente Frage nach der Möglichkeit von Wissen nicht ungültig werden lassen; sie erlauben jedoch ihre nuanciertere Formulierung. Angesichts eines Gefühls der Übersättigung mit Wissen erscheinen unsere Erkenntnisse bisweilen weniger als Unmöglichkeit denn als ununterbrochener Strom eines ,Geplappers‘.
Und nun? Aus einer tiefen Ratlosigkeit heraus stellt Blumenberg die Montaigne’sche Grundsatzfrage neu: „Was wollten wir wissen?“13 Im Nachklang dieser Frage entsteht ein Schreiben, das auf der Suche nach seinem Objekt ist; das nach seiner Form tastet und mehr in der intuitiven Geste des Schreibens besteht, das seine Intention vergessen hat. Der Weg zu einer möglichen Antwort auf die Frage, was wir haben wissen wollen, kann vielleicht in einer Kontemplation beschritten werden: einem genauen, langsamen Blick, der auch die winzigsten Phänomene nicht übersieht und ein Hineinhorchen in sich bedeutet, in der Erwartung der Wiederkehr eines wahrhaft schöpferischen Logos. Walter Benjamin bezeichnet Kontemplation als den ausdauernden Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention und als ein unablässiges Atemholen.14 Ein kontemplatives Schreiben ist eine Praxis der Unterbrechungen, des Innehaltens, des Neuansetzens. Ihm geht es darum, dem Denken Lücken, Leerstellen, Räume zu eröffnen, das heißt nach Benjamin: schreiben und denken außerhalb der falschen Einheit; den strengen Deduktionszusammenhang unterbrechen und aufbrechen, der die Systemlogik ausmacht.15 Denn die Retorte im Denken ist das Lückenlose. Die Kontemplation dagegen ist ein Weg, der freie, unbeschriebene Stellen eröffnet, in denen die neuen Fragen erscheinen; ein Weg des Schreibens, der zu den Lichtungen des Denkens führt. Nun täte es not zu erforschen: Was geschieht auf den Lichtungen? Welcher Horizont lässt sich von ihnen aus erblicken?
Wir sind der Lettern überdrüssig geworden, und dennoch versiegt nicht der Impuls des Schreibens. Diesen grundlegenden Widerspruch meint Fernando de la Flor in unserem Umgang mit typografischen Erzeugnissen zu beobachten: Wir produzieren Schriften in immer größerem Tempo ohne jeglichen Anspruch auf Dauerhaftigkeit und geben sie somit dem Vergessen anheim, noch bevor sie rezipiert werden könnten. Der überbordenden Allgegenwart der Bücher schwindet das Publikum, sodass man den Eindruck gewinne, es steige nicht die Zahl der Leser, sondern nur die Zahl derer, die gelesen sein wollen.16 Die