Unter der nachfolgenden Generation von Intellektuellen ist José Ortega y Gasset die einflussreichste Figur. Die 1923 durch ihn gegründete Revista de Occidente wird nicht nur zum Medium der Verbreitung neuer Ideen, sondern auch für die essayistische Art ihrer Darstellung, nicht nur in Kunst und Literatur, sondern auch in Wirtschaft, Wissenschaft, Soziologie und Architektur. Die Revista ist Zugpferd für einen ,Essayismus‘, verstanden als Lebensform, die alle Bereiche des sozialen Lebens durchdringt. Allerdings besitzen viele dieser Texte einen deutlichen Bildungsauftrag und sind didaktisch ausgerichtet. Damit erhalten sie eine feste und durchdachte Form, in der ihr gedanklicher Inhalt schon vorstrukturiert erscheint. Viele dieser Essays besitzen Traktatcharakter. Auch Ortega selbst besitzt eine ausgeprägte didaktische Sensibilität, der sein großer stilistischer Gestaltungswille untergeordnet ist. Seine zwischen Gelehrsamkeit und populärem Ausdruck, lateinischen Zitaten, Neologismen und Metaphern mäandernde Eloquenz soll sein Denken vor allem ,verführerisch‘ gestalten und dadurch die Verbreitung seiner Ideen fördern. Diese stilistischen Besonderheiten sind prägend für seine Generation, und so bleibt auch für seine Schülerin María Zambrano die enge Verbindung von Denken und Ausdruck eminent wichtig.138 Die Bindung des ideellen Gehalts an den Ausdruck ist vielleicht eine der grundlegendsten Beobachtungen bei der Charakterisierung essayistischer Schreibweisen im kontinentalen ,Montaigne-Stil‘. Unter diese Universalia zählt aber auch eine Verknüpfung unterschiedlicher Diskursarten sowie, ganz allgemein, die Herstellung neuer, zunächst ,unwahrscheinlicher‘ Verbindungslinien innerhalb des Denkens. In diesem Sinn ist auch Ortegas Philosophie selbst von einem ,essayistischen Geist‘ durchdrungen. Sein Projekt besteht in einer Versöhnung von Rationalismus und Vitalismus in einer radikal historisch gedachten Realität durch die Theoretisierung einer ,razón vital‘. Für Zambrano könnte sie ein Anstoß oder Stichwortgeber gewesen sein, ihrerseits nun Gedanken zu einer ,razón poética‘ zu entwickeln. Zambrano emanzipiert sich aber dabei nicht nur von Ortegas Philosophie, sondern auch von dessen Stil. Während Ortegas Denken und Schreiben stets einem ,traditionellen‘ philosophischen Diskurs verpflichtet bleibt, geht seine Schülerin einen neuen Weg: Statt Gedanken rein diskursiv zu verhandeln und ihnen lediglich durch ,Zugabe‘ poetischer Elemente einen in weitestem Sinn ,literarischen Charakter‘ zu verleihen, setzt die Sprache den Gedanken in ihrem Ausdruck selbst um. Dieser hohe Grad dessen, was ich später als ,Performativität des Essayistischen‘ bezeichne, ist in Montaignes Essaystil angelegt, kommt aber durch die Lyrisierung noch eine andere Dimension. Die Bindung der Idee an den Ausdruck wird vielschichtiger – sie ,verdichtet‘ sich. Die essayistische ,Melange‘ von Gedanken und Diskursarten, thematisiert sich nun selbst im Ausdruck – als Heterogenität und Differenzhaftigkeit der Sprache. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um Essays über ein Thema, sondern um die Sprache selbst als Essay.
Zambranos verdichteter Essaystil entspricht gewissen Sensibilitäten der Epoche für derartige Projekte; die Lyrisierung von ,Ideenliteratur‘ erscheint auch auf der iberischen Halbinsel gewiss nicht ohne Vorläufer. Herausheben möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich den katalanischen Philosophen und Essayisten Eugenio d’Ors. Zambrano hatte Ors in den Jahren 1922/23 auf dem vorläufigen Höhepunkt von dessen Popularität persönlich auf Vorträgen in Segovia gehört.139 Möglicherweise hatte sie sich bei dieser Gelegenheit auch eindringlicher mit Ors’ philosophischem Projekt auseinandergesetzt. Wie Ors einige Jahre später, 1927, seinem Vertrauten Valery Larbaud mitteilte, hatte er nichts Geringeres im Sinn als eine Kepler’sche Reform des Denkens, indem er den Bereich der Ratio mit einem Mystizismus à la Bergson vereinen wollte. Diese intellektuelle Wende verlangte dabei seiner Ansicht nach auch einen veränderten Stil, den er selbst als Sprache zwischen Prosa und Dichtung beschreibt, als „una especie de lenguaje intermedio entre prosa y verso“.140 Ors wollte sein Vorhaben nicht dem Projekt einer damals in Mode geratenen ,prosa lírica‘ anschließen, sondern ausdrücklich das Feld der Prosa nicht verlassen. Jedoch sollte die Prosa dem Gesetz der Dichtung folgen („la ley nativa del verso“).141 Ob nun María Zambranos Projekt einer ,dichterischen Vernunft‘ auf Ors zurückgeht oder vollkommen unabhängig davon entsteht, ist unklar; jedenfalls findet die philosophische Zusammenführung von Ratio und intuitiveren Strukturen des Geistes, die auch mit stilistischer Entsprechung materialisiert werden, einen Pionier in Ors. Dieser entwickelt allerdings in späteren Jahren politisch einen tiefen Konservatismus und schließt sich dem ,Falangismo‘ an: unvereinbar mit Zambranos kämpferischem Engagement für die spanische Republik. Was aber immerhin für eine Rezeption Ors’ durch Zambrano spricht, ist der Ansatz reiner Kontemplation, des Denkens als Nichtdenken, der beiden zu eigen ist. Ors hatte es in Oceanografía del tedio bereits 1916 erzählerisch in Szene gesetzt: „¡ni un pensamiento, ni un movimiento!“142 Die reine Betrachtung des Bildhaften, Meditation und Stille sind bei Ors einem Ideal des ,Noucentisme‘ geschuldet: Die klassizistische, zuweilen extrem reduzierte Ästhetik sollte die Präzision des intellektuellen Ausdrucks und die Besinnung auf ein Wesentliches fördern. Zambrano hingegen entlehnt ihre meditative Haltung eher der spanischen Mystik. Die Erforschung der Stille ist jedoch für beide ein intellektuelles Projekt im Sinne einer Weltschau, die sich einer Unbekannten zuwendet; eine Selbstbetrachtung als Ozeanografie der Seele. Dieses Projekt ist bei Zambrano untrennbar mit der Poesie verbunden, weil die Poesie Ort dieser Stille ist. Sie verweist auf das, was dem philosophischen Intellekt entgeht: die Leere zwischen den Zeilen und die Pausen zwischen den Worten; auf einen Zustand, der dem Wort vorgängig ist und dasjenige bewahrt, was sich noch nicht in die Endgültigkeit der Form gefügt hat. Wie Octavio Paz sich erinnern wird, ist dies in seinen zahllosen Gesprächen mit der Philosophin die Stimme Zambranos selbst gewesen: „Es ist eine flüssige Stimme, die nicht geradlinig voranschreitet, sondern sich zwischen Pausen und Schwankungen hindurchschlängelt.“143 Poetische Essayistik ist die Betrachtung der eigenen Stimme; nicht in ihrem Fluss, sondern in ihrer ozeanischen Dimension: „Doch das Meer, das dem frivolen Beobachter als höchste Gleichheit und Monotonie erscheint, bietet dem Taucher, der sich in es vertieft, das Erstaunen über tausend Schauspiele