Wird nun also der biblioklastische Impuls unter den Vorzeichen des autobiografischen Traums zum Ausdruck eines Selbsthasses und eines Wunsches nach Selbstliquidation? Ein anderes Szenario entwirft Bernhard Teuber, der das abgenutzte Wort vom „Tod des Autors“ neu im Zeichen einer Opfertheorie betrachtet, die bei Barthes anklingt. Nicht im Sinne einer Auslöschung seien solche Todesnachrichten zu begreifen, sondern als „sakrale Selbstaffektion“31 und Selbstaufopferung. Die Instanz des Autors nehme den Tod auf sich, um das literarische Publikum zu erlösen. Im Anschluss an Freud, Caillois und Bataille betrachtet er das Opfer als gebotene Transgression in der Ausschweifung und als unproduktive Verausgabung (dépense). Letztere hatte Bataille im Potlatsch nordamerikanischer Indianerstämme beobachtet, dem rituellen Schenken teils beträchtlicher Reichtümer ohne Erwartung einer Gegengabe. Gemeinsam sei den beobachteten Äußerungsformen des Opfers, dass sie „nicht auf die Produktion gesellschaftlich nützlicher Güter durch Arbeit, sondern auf deren Zerstörung gerichtet sind“.32 Dabei assoziiert schon Mauss den Potlatsch mit einem intransitiven Gestus, insofern er sich der Tauschökonomie entzieht.33 Das heißt, es geht um den Akt selbst, nicht um den erwartbaren Nutzen. Die Transgression, Paradigma des archaischen Festes, liegt dabei in der gezielten Missachtung ökonomischer Rationalität.
Intellektuelles Schreiben im Medium bedeutet im Rahmen einer von Teuber umrissenen Theorie des Opfers Selbsthingabe durch Transgression und Verausgabung. Durch den Verzicht auf konkrete Finalität, sei es didaktischer Nutzen oder ästhetische Unterhaltung, übertritt es die Gesetze des Buchs als Protoemblem kultureller Ökonomie: Das Schreiben verweigert seinen Status als Mnemotechnik, entzieht sich eindeutiger Referenz und missachtet seine Sanktionierung als Sekundant des Wortes und des unmittelbaren Sinns, kurz: Es verneint seine Legitimationsbedürftigkeit. Als intransitiver Gestus ist es zudem feierliche Verausgabung, weil es nicht zum Ruhen kommt; weil es seine Thesen opfert und seine Sinnsetzungen immer wieder verwirft. Seine Bewegung verläuft nicht geradlinig ,auf ein Ziel zu‘, sondern perpetuiert sich als „Rückkoppelungs-Schleife“34 im Kreis. So begeht das kontemplative Schreiben das Opferfest im Kreisgang, den Martin Heidegger als „Fest des Denkens“ bezeichnet hatte.
Das Schreibopfer dient der Rettung der Bücher und des in ihnen enthaltenen Sinns. Dabei sind in christologischem Sinn Opfernder und Opfergabe eins. Der Schreibende nimmt den gesellschaftlichen Exzess, den Überschuss der Bücher in sich auf, um sie in einem Akt der Verausgabung zu opfern, das heißt: die Lektüren zu zerlesen, auseinanderzureißen, Lücken in ihre Diskurse zu schlagen, sie zu verwinden, zu verarbeiten, sich schreibend ihrer zu entledigen und von ihnen zu befreien. Letztendlich bedeutet das auch, das Buch seiner selbst zu dekomponieren. Doch nicht die Auslöschung ist dessen Ziel: Bernhard Teuber spannt einen Bogen zur negativen Theologie des Pseudo-Dionysius, nach der sich über die höchste Gottheit nur in Negationen sprechen lässt; alle Affirmationen seien dazu ungeeignet. Das verwerfende Schreiben ist eine Verausgabung in Negationen. Es führt, so die Hoffnung, zur Negation der Negation und zur Erscheinung des Überschüssigen, das sich der Affirmation entzieht. In einer Epiphanie dieses ‚plus ultra‛ – Derrida nannte es das „+n“ – ließe sich ein Horizont der Ganzheit, des ,Alles-Versammelns‘ und des ,Alles-Sagens‘ vermuten. Teuber erinnert in diesem Zusammenhang an die Dialektik des Juan de la Cruz „zwischen dem ,Nichts‘ (nada), dem man sich radikal verschreiben soll, und dem ,Alles‘ (todo), das man am Grunde dieses Nichts gewinnen kann“.35 Auflösende Verausgabung der vielen Bücher und damit Auflösung des inneren Polylogs; das eine Buch des Selbst zum Schweigen bringen, die große Unterbrechung, den leeren Raum schaffen, in dem die wirkliche Erfahrung der Literatur möglich wird. Denn erst ihre Übertretung, sagt Derrida im Gespräch mit Attridge, macht es möglich, das Wesen ihres Gesetzes selbst zu denken.36 Vielleicht liegt in der Intimität einer solchen Erfahrung eine mögliche Antwort auf die Frage, was es gewesen sei, das wir hatten wissen wollen. Und so zeigt sich der wahrhafte Bücherfreund im Bekenntnis des Biblioklasmus.
Nun wäre der Rahmen umrissen, die Bühne bereitet, auf der sich jenes Schreiben bewegt, das ich in dieser Studie als das essayistische betrachte. Dieses Buch, Leser, gibt dabei redlich Rechenschaft. Es entspringt vielleicht einem gewissen Unbehagen, das sich zuweilen im Umgang mit manchen literaturwissenschaftlichen Ergebnissen einstellt, sowie einem unruhigen Umherirren durch einige Bibliotheken auf der Suche nach Bekenntnissen, die wir heute Essays nennen. Dabei stieß ich auf solche, die wir vielleicht nicht ohne Weiteres als solche bezeichnen würden, die aber dennoch Zeugnis jenes Begehrens der Totalität zwischen Philosophie und Literatur sind. Die beiden Texte, die ich in dieser Arbeit vorstelle, María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático, verstehen sich beide als das, was Wolfgang Müller Funk am Grund essayistischen Schreibens erkennt: als ein „Korrektiv des wissenschaftlichen Szientismus“.37 Beide verhandeln in einzigartiger Weise jene alte Feindschaft zwischen dem Denken und dem Dichten, in deren Zwischenraum für Derrida die Möglichkeit zu einer Erfahrung der Literatur gegeben ist. In ihnen nun meinte ich greifbarere Manifestationen eines essayistischen Geistes zu finden als in so manchem ,Essay‘. Über etwa 450 Jahre hinweg haben Menschen ein Schreiben praktiziert, mit dem sie sich und die Welt um sich herum transparent, und Welt und Wissen sprechend machen wollten. Die beiden Texte handeln vom Ringen des lesenden und schreibenden Subjekts um das Verständnis der Zeichen, die es umgeben. Und es sind Bekenntnisse derer, die trotz oder gerade wegen ihres Zweifels eine Sprachlosigkeit der Welt nicht vollkommen akzeptieren wollten. In diesem Sinne versuche auch ich, mich in diesem Wald sprechender Zeichen zurechtzufinden. Bücher werden herausgezogen und zurückgestellt, Lektüren werden erwogen und wieder verworfen, plötzlich erscheinende, vielleicht unerlaubte Analogien werden erahnt, vertieft und wieder ausgelöscht. Doch all die erlaufenen Umwege haben, so meine tiefe Hoffnung, etwas Wesentliches beizutragen zu einem Verständnis des Essayistischen, welches uns die reinen Affirmationen vorenthalten. Und umso eindringlicher kann ich nun auch mit Montaigne versichern: C’est un livre de bonne foi.
Für einen universelleren Zugang habe ich den Text weitestgehend in deutscher Sprache gehalten, gerade im Fall der französischen (Sekundär)literatur eine Entscheidung, die mir nicht leichtgefallen ist. Ich habe jedoch einschlägige französische Begrifflichkeiten im Original in Klammern hinzugefügt. Um nicht mehr Fußnoten als Text zu schaffen, sind lediglich die Montaigne-Zitate im Ganzen auf französisch bereitgestellt. Dagegen befinden sich sämtliche relevanten spanischen Zitate zum Nachlesen direkt auf der jeweiligen Seite in der Fußnote. Diese zeigt die zitierte Stelle jeweils sowohl in der deutschsprachigen (gekennzeichnet durch „dt.“) als auch in der spanischsprachigen Publikation (gekennzeichnet durch „span.“) an. In einigen Fällen habe ich selbst übersetzt, auch wenn bereits eine deutsche Textfassung verfügbar gewesen wäre. Es schien mir geboten, bestimmte Stellen in eigener Übersetzung vorzustellen, um in einem Feinbereich der Sprache die größtmögliche Achtsamkeit auf eine speziell im Sinne meiner Analysetätigkeit adäquate Übertragung zu legen. Eigene Übersetzungen sind als „(e.Ü.)“ in der Fußnote gekennzeichnet.
Mit Jacques Lacans ‚Spiegelstadium‛ und Julia Kristevas ‚Textpraxis‛ führe ich zwei grundlegende Theorien zur Erfassung essayistischen Schreibens in die Diskussion; dabei mag es verwundern, dass beide nicht im Detail in ‚Teil II‛ dieser Arbeit dargelegt sind: Ich hielt es für sinnvoll, diese Theoriebausteine in ‚Teil III‛ zusammen mit der konkreten Textanalyse auseinanderzusetzen, um sie für die Primärtexte direkt präsent zu halten und so die Verständlichkeit des Textes zu erhöhen. Im Theorieteil hingegen will ich übergeordnete Zusammenhänge klären, aus denen sich die Bedeutung der angesprochenen Theorien für das ‚Essayistische‛ ergibt. Es geht also um eine Betrachtung, inwiefern essayistisches Schreiben an einen Begriff der ‚Praxis‛ gebunden ist, sowie um deren allgemeine psychoanalytische Implikationen.
II. Theorie
1 Der Essay und das ,Essayistische‘
1.1 Der Essay als Gattungsproblematik
Ob als populärwissenschaftlich marginalisiert, als