Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático. Veit Lindner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Veit Lindner
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303381
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Unbewussten der Psychoanalyse und zum Phantastischen. Der essayistische Diskurs, so lässt sich vielleicht allgemein feststellen, gewinnt gegen Mitte des 20. Jh. etwas Abgründigeres, das in der mexikanischen Essayistik zudem mit einem gesteigerten Interesse an innerpsychischen Erklärungsmodellen der nationalen Identität zusammenfällt.164

      Der nationale bis pan-amerikanische Identitätsdiskurs ist eines der wichtigsten Beschäftigungsfelder expositorischer Texte in Lateinamerika. Auch in Mexiko ist der ‚Identitätsessay‛ enorm wichtig und stellt einen ganz eigenen Zweig der Ideenliteratur dar. Eine wertvolle Studie über das Thema hat Wolfgang Matzat mit seinem Buch Lateinamerikanische Identitätsentwürfe geliefert.165 Matzat macht dabei auf die Schwierigkeit aufmerksam, die eigene Identität mit Hilfe fremder, meist aus Europa importierter Diskurse zu formulieren, die darüber hinaus die Überlegenheit des Zentrums über die Peripherie beanspruchen. Auf diese Weise finde die Argumentation durch ein Umschreiben fremder Diskurse, „rhetorische Manipulationen“, „dekonstruktive Verkehrung und Umhierarchisierung von Oppositionsrelationen“ statt.166 Für Mexiko stelle sich insbesondere die Problematik der doppelten Abgrenzung, von Europa, wie von den USA. In verschiedenen Etappen oder Phasen arbeiten sich die Autoren dabei an einem jeweils gültigen Paradigma ab: zunächst mit dem sozialdarwinistisch positivistischen des 19. Jh. Herausragender Vertreter einer Umdeutung und Kritik dieses Diskurses wäre José Vasconcelos mit La raza cósmica von 1925. Gegen Ende des Regimes von Porfírio Díaz kommt es mit dem Vitalismus zum Paradigmenwechsel, dem sich besonders die wissenschaftliche Gesellschaft des ‚Ateneo de la Juventud Mexicana‛ um Alfonso Reyes, Pedro Enríquez Ureña und Antonio Caso widmet. In einer weiteren Phase setzt nach Matzat eine Auseinandersetzung mit dem historischen Perspektivismus Ortega y Gassets und der Tiefenpsychologie Alfred Adlers ein. Zu nennen sei in diesem Kontext besonders Samuel Ramos und El perfil del hombre y la cultura en México von 1934, von dem sich Octavio Paz beeinflusst zeigt: Ramos schließt von manifesten kulturellen Symptomen auf verborgene Ursachen, führt den Topos des Schein- oder Maskenhaften in die mexikanische Identitätsdebatte ein, sowie den der Selbstentfremdung und des mexikanischen Minderwertigkeitskomplexes. Bei der Konstruktion eines Volkscharakters greift er auf die Unterschichten-Figur des ‚pelado‛ als ein „autre intérieur“167 zurück; Octavio Paz wird es ihm später mit der Figur des ‚pachuco‛ gleichtun.168

      Ab Mitte des 20. Jh. etwa beschäftigen sich die Autoren mit dem Existenzialismus und mit Heidegger, dessen Rezeption in Mexiko vor allem über den Exilspanier José Gaos, seine Schüler Leopoldo Zea und Emilio Uranga, und die philosophische Vereinigung ‚Hiperión‛ einsickert. Diese Phase, so Matzat, ist von einer Internalisierung geprägt, in welcher die Andersartigkeit des mexikanischen Wesens zunehmend eine Deutung hinsichtlich eines „innerpsychisch Anderen“169 erfährt.

      Freilich lässt sich Octavio Paz nicht vollkommen außerhalb der Tradition der mexikanischen Identitätstraktate denken. Dennoch hebt er sich deutlich von ihr ab. Hatten sich seine Vorgänger vornehmlich am Paradigma ihrer jeweiligen Epoche orientiert, oder dieses kritisiert, so kommt es bei Paz zu einer Hybridisierung der Diskurses; zu einem Eklektizismus sich teils sogar widersprechender Argumentationsformen.170 Für den laberinto de la soledad greift er zwar einige Ansätze von Samuel Ramos auf, rückt aber zunehmend davon ab. Etwa 25 Jahre nach Erscheinen des laberinto kritisiert er Ramos‛ totale Abhängigkeit der Argumentation von den Modellen Alfred Adlers ausdrücklich.171 Neben der Abgrenzung gegen eindimensionale Argumentation und der Verwendung essayistisch-pluraler Verfahren, unterscheidet sich Paz berühmtester Beitrag zur mexikanischen Identitätsdebatte durch seinen universalistischen Zugang. In einem Brief an Alfonso Reyes vom 23. November 1949 macht Paz klar, dass es ihm beim laberinto nicht um eine Darstellung exklusiv mexikanischer Identität geht. Er folgt einem weitaus kosmopolitischerem Ansatz:

      Eine in seine Partikularismen verliebte Intelligenz […] beginnt, keine mehr zu sein. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: ich fürchte, für einige besteht das Mexikaner-Sein in etwas so Exklusivem, dass es uns die Möglichkeit verweigert, einfach nur Menschen zu sein. Und ich erinnere daran, dass Franzose, Spanier oder Chinese zu sein nur eine geschichtliche Art und Weise ist, über das Französische, Spanische oder Chinesische hinauszugehen.172

      Wenn Paz also in Los hijos de La Malinche, das mexikanische Wesen unter dem Vorzeichen einer ‚extrañeza‘ betrachtet – einem tief empfundenen Befremden, das ein Gefühl des Hermetismus und einer fehlenden Lesbarkeit erweckt – so lässt sich dies in einem universell existenzialistischen Kontext interpretieren. So wirken gewiss nicht nur die Mexikaner „herméticos e indescifrables“.173 Auch Sprache selbst steht bei Paz zunehmend unter Vorbehalt: In unserer Sprache, schreibt Paz in Los hijos de La Malinche, gebe es geheime Wörter ohne klar umrissenen Inhalt, dessen ,magischer Vieldeutigkeit‘ wir sowohl den brutalsten als auch den subtilsten Ausdruck unserer Gefühle anvertrauten. Jeder Buchstabe, jede Silbe, so Paz, scheinen von einem Doppelleben beseelt, das uns gleichzeitig enthüllt und verbirgt.174 Auch wenn sich Paz hier noch konkret auf das sehr mexikanische Wort ,chingada‘ bezieht, scheint sich doch schon eine Entwicklung abzuzeichnen, die jenes ,Abgründige‘ vom reinen nationalen Identitätsnarrativ fortschreitend entkoppelt und in einer Sprachkritik universalisiert.

      El mono gramático steht auf der Blüte dieser Entwicklung, die Identität auf einer sehr persönlichen Ebene an das Verhandeln einer Sprachproblematik knüpft. Die gesteigerte Sensibilität gegenüber Inhalten, die in der Alltagssprache verborgen oder latent sind, treibt Paz’ ,écriture‘ nicht nur zu einer poetischen Erkundung von Poesie, sondern rückt ihn auch in die Nähe des französischen Surrealismus. Obwohl Paz ein ,automatisches Schreiben‘ für sein eigenes Werk nie übernommen hatte und ihm immer weniger zustimmte, pflegte er doch eine intensive Freundschaft mit André Breton, mit dessen Werk er vertraut war. Der ,écriture automatique‘ geht es um eine Subversion der Alltagssprache durch den Entzug ihrer kommunikativen Funktion.175 Diese Subversion sieht Breton ganz allgemein in der Poesie verwirklicht, die sich jedoch nicht im Rahmen einer institutionalisierten ,Literatur‘ beschränkt halten solle, sondern, unter Aufhebung des Unterschieds von ,Kunst‘ und ,Leben‘, aus dem Randbereich in den Mittelpunkt einer Lebenspraxis gerückt werde.176 Durch die „zufällige Ausstreuung des Signifikanten“177 will Breton dessen ursprünglichen Gehalt wiederherstellen. „Die ,écriture automatique‘ soll Inhalte restituieren, die toten Formen wiederbeleben, die Präsenz des Ausgedrückten in die Sprache einholen.“178 Dabei geht es Breton nicht um das pauschale Verwerfen des Rationalismus, sondern um dessen Befreiung von seinem Nützlichkeitszwang und die Ermutigung des Menschen, sich all seiner Fähigkeiten zu bedienen.179 Es geht nicht darum, Kunstwerke zu produzieren, schreibt Breton etwa in seinem Zweiten Manifest des Surrealismus, sondern darum „aufzuklären über den nicht-erkannten und doch erkennbaren Teil unseres Seins, wo alle Schönheit, alle Liebe, alle Kraft, die wir kaum kennen, in intensivem Licht leuchten“.180 Der ,Automatismus‘ ist also Poesie, verstanden als Möglichkeitsdiskurs und Drang zu einer Entdeckung eines in der Sprache Verborgenen. Breton hat nicht einfach eine ästhetische Gestaltung des Lebens im Sinn, sondern eine Durchdringung und vor allem eine „Befreiung der durch die Zivilisation unterdrückten Wünsche“.181 Damit antwortet das automatische Schreiben auf ein ,Unbehagen in der Kultur‘. Ein unterdrücktes Unbewusstes soll hier mit Mitteln zum Vorschein gebracht werden, die Freud bereits sehr ähnlich in der Traumdeutung angelegt hatte. So ordnet Breton für das Schreiben automatischer Texte eine „passiv rezeptive Haltung“ an. Diesen Zustand „kritikloser Selbstbeobachtung“ empfiehlt auch Freud für die Bildung freier Assoziationen, um den latenten Trauminhalt durch die Zensur zu lotsen.182

      Was nun diese Ansätze gerade für die Entwicklung einer ,poetischen Essayistik‘ so interessant macht, ist nicht zuletzt der Aspekt der Selbstbeobachtung, den Breton im Zweiten Manifest hervorhebt. Nicht nur ein Schreiben dürfe der ,Automatismus‘ sein, sondern auch die Erkundung der Ursprünge dieses Schreibens in sich selbst. Andernfalls blieben jene ,logischen Sondergebiete‘, die es zu erschließen gelte, eine Unbekannte: „Was sage ich: sie bleiben nicht nur unerforscht, diese logischen Gebiete, sondern man verharrt so sehr wie je in Unkenntnis über den Ursprung jener Stimme, die jeder von uns in sich vernehmen kann, die uns in seltsamster Weise von anderem spricht, als wir zu denken meinen […].“183 Die Erforschung jenes Anderen, in der Sprache stets Verfehlten, das als Unbewusstes in der Sprache diese