Dergleichen Sammelsurien abgedroschener Gemeinplätze, mit denen so viele Leute ihr Studium betreiben, ohne sich in geistige Unkosten zu stürzen, sind kaum für andere, als für abgedroschene Themen brauchbar. […] Ich habe gesehn, wie Bücher über Dinge gemacht wurden, die der Autor weder studiert noch verstanden hat.198
Anders als der Vorwurf der Beliebigkeit und Unwissenschaftlichkeit, der Montaigne von zeitgenössischen Gelehrten gemacht wurde (und dem sich Essayisten bis heute stellen müssen), sind die Essais Ausdruck des Versuchs einer Ordnung: Was ist relevant, in welchem Zusammenhang? Dabei richtet sich Montaigne gerade gegen die Vielwisserei199 und gegen die Überschwemmung durch gelehrte Zitate und unreflektierte Versatzstücke. Die Literatur, aus der sich die Essais herausbilden und die sie gleichzeitig kritisieren, war, wie Pierre Villey schreibt, eine der Popularisierung antiker Weisheiten.200 Darunter fallen vor allem Adaptionen antiker Schriften: moralische Sentenzen und, nach dem Vorbild Plutarchs, ,exempla‘ von Lastern und Tugenden großer Männer der Geschichte, Anthologien und Nachdrucke, vermischt mit Bonmots und erstaunlichen Anekdoten. Villey spricht von einer „quantité des maximes et de réflection mal digérées“201 – von schlecht verdauten Reflexionen. Der Hunger nach Literatur über moralische Fragestellungen war brandaktuell, gleichzeitig waren die zeitgenössischen Schriften scheinbar zum Vergessenwerden verdammt, da sie kaum imstande waren, etwas wirklich Neues zu schaffen. Villey weist darauf hin, dass auch Montaigne wahrscheinlich nicht geplant hatte, eine neue literarische Form zu kreieren. Vor allem die frühen, um 1572 entstandenen Essais folgen noch sehr dem Stil der damals in Mode geratenen ,leçons‘. Sie sind eher unpersönlich, präsentieren wenig eigene Gedanken und ähneln dem literarischen Substrat, aus dem sie hervorgegangen sind. Doch schon bald verselbstständigt sich Montaignes Schreiben, und er beginnt, die antike ,Rezeptphilosophie‘ in moralischen Fragestellungen den realen Bedingungen des Individuums gegenüberzustellen und sie dem Praxistest des eigenen Lebens zu unterziehen. Folgte Montaigne dabei anfangs vage stoizistischen Idealen (Que Philosopher, c’est apprendre à mourir, I, 20), entwickelt sich sein Schreiben schon bald fort. Er folgt keiner bestimmten Denkrichtung, sondern macht sie sich alle zu eigen und unterzieht sie einer Kritik, die als modern gelten kann.202 Seine Moral ist dabei nicht mehr an einem göttlichen Wesen ausgerichtet, sondern allein an der menschlichen Vernunft.203
Eine andere Art zeitgenössischer Literatur waren die naturwissenschaftlichen Kompilationen als Ausdruck, wie Claire de Obaldia schreibt, einer kollektivistischen Tradition.204 In diesen Nachschlagewerken wurde kritiklos alles zusammengeführt, was über einen Gegenstand der Natur, etwa ein Tier, bekannt war. Ein besonders anschauliches Beispiel solcher Kompilationen ist durch Michel Foucault einem breiteren Publikum bekannt geworden: die Historia serpentum et draconum des italienischen Naturforschers Ulisse Aldrovandi. Aldrovandi kategorisiert sein Kapitel über Schlangen in Rubriken, die für uns heute kurios erscheinen, wie etwa: Anatomie, Bewegung, Vorkommen, aber ebenso Doppeldeutigkeit, Synonyme, Heilmittel, Lehrfabeln, Symbole, rätselhafte Wunder, Träume etc. Die Essais lassen sich auch als Reaktion auf solche Kompilationen lesen. Wie Claire de Obaldia schreibt, kritisiert Montaigne die Willkür einer solchen Wissensorganisation und konfrontiert sie mit Kritik und Reflexion.205 Für Montaigne sind die Kompilationen Ausdruck des utopischen Gedankens, einen göttlichen Bauplan des Universums in einer allumfassenden und zugleich menschenverständlichen Weise begreifen zu können. In diesem Sinne hat die rigorose innere Organisation eines abstrakten Wissenssystems Montaigne wohl nicht etwa gelangweilt, wie der argentinische Literaturwissenschaftler Walter Mignolo schreibt,206 sie musste ihm vielmehr als Phantasmagorie (oder ,fantaisie‘) erscheinen.
der Arten Zahl ist unbekannt, und keiner hat sie je benannt. Die Wissenschaftler sind es, die ihre Ideen [fantaisies] zergliedern und bis ins kleinste mit spezifischen Begriffen umgrenzen. Ich hingegen, der ich nicht mehr Einblick habe, als die Alltagserfahrung mir völlig reglos zukommen läßt, lege die meinen, mich vorantastend, nur in groben Zügen dar – so auch hier, wo ich meine Meinungen in unverbundenen Sätzen ausspreche, wie man es bei Dingen zu tun pflegt, die sich nicht auf einmal und im ganzen [à la fois et en bloc] sagen lassen.207
Der Illusion des wissenschaftlichen Systems, innerhalb dessen alle Aussagen bereits angelegt sind und somit zumindest theoretisch ,à la fois et en bloc‘ genannt werden können, erteilt er eine Absage. Es gibt keine Vollständigkeit, keine letztgültige Kategorisierung – daher bleibt das Wissen immer Fragment und Provisorium, das sich auf die individuelle Erfahrung gründet. Radikale Skepsis übernimmt die Regie über Montaignes Denken. Die Unsicherheit gegenüber allen Urteilen – auch den eigenen – lässt ihn nur tastend voranschreiten (à tâtons).
Symbol dieser Skepsis ist die Medaille, die Montaigne 1576 prägen lässt: darauf eine Waage mit gleichgerichteten Schalen mit dem Wahlspruch darüber „Que scay-je“ – was weiß ich. Bildlich gesprochen, besitzt jede Medaille – ebenso wie die Waage – zwei Seiten. Gerhard Haas interpretiert Montaignes Wahlspruch sehr treffend als eine solche Ambivalenz. So sei jenes „Qué scay-je“ einerseits „Rechenschaftsablegung eines wachen Geistes“,208 der sein Wissen inventarisiert, es organisiert, Zusammenhänge ergründet und nach Relevanz anordnet. Andererseits aber beinhalte diese Frage auch den Zweifel an der Bewältigungskraft des eigenen menschlichen Verstands: Montaignes Medaille beinhaltet also eine doppelte Fragestellung: Einerseits: Sind alle Möglichkeiten erwogen? Andererseits: Sind alle Möglichkeiten überhaupt erwägbar?209
So wenig wie Montaigne in die Wissenssysteme und -schulen seiner Zeit eintaucht, so wenig arbeitet er sich auch an dem ab, was wie kaum etwas anderes die Totalität dieser Systeme suggeriert: das Buch. Seine Lesepraxis bleibt die eines Müßiggängers in den Schriften, eher aufmerksam blätternd als sich in die Lektüre versenkend. Wie Hugo Friedrich schreibt, liest Montaigne interessiert, aber nüchtern. „Das Ringen mit großen Autoren mag er nicht.“210 Stattdessen kokettiert er mit der eigenen Durchschnittlichkeit und einem angeblich schlechten Gedächtnis. Die Bücher dienen ihm nicht wie den Humanisten als belehrende Autorität, sondern als Anregung. Hans Blumenberg, der sich in Die Lesbarkeit der Welt mit dem ,Buch‘ als Metapher für die Erfahrbarkeit der Welt beschäftigt, spricht von der Metapher des „Buchs der Natur“, mit der Nikolaus von Cues das Bibliotheks- und Bücherwissen konfrontiert hatte: Von dem Übermaß der Schriften befreie das eine Buch der Natur, dessen Erkenntnisse auch dem illiteraten Laien zur Verfügung stünden. Die Gestalt des ,Idiota‘, des unkundigen, aber mit Weltklugheit und Selbstbewusstsein ausgestatteten Stadtbewohners, „antwortet dem gelehrten Redner auf die Frage, woher er denn seine Wissenschaft der Unwissenheit (scientia ignorantiæ) habe: Nicht aus deinen Büchern, sondern aus Gottes Büchern, die er mit eigener Hand geschrieben hat.“211 Nach Blumenberg muss der Cusaner die Metapher von den ,beiden Büchern‘ (Die Natur und die Schriften) wohl von dem katalanischen Humanisten Raymund von Sabunde gekannt haben. Dessen Theologia Naturalis (1436) war in Montaignes Übersetzung ins Französische (1568) einem größeren Publikum bekannt geworden. Sabunde vertrat die Auffassung, Gottes Buch der Natur sei im Grunde fälschungssicherer als die Heilige Schrift, da es nicht falsch ausgelegt werden könne. Somit habe der Laie, der in diesem Buch lese, einen unmittelbareren Zugang zur Weisheit. Montaigne hatte sich über seine Übersetzungsarbeit intensiv mit Sabunde auseinandergesetzt, wovon auch der mit Abstand umfangreichste Text seiner Essais, die Apologie de Raimond Sebond (II, 12), zeugt. Blumenberg ist der Auffassung, dass die Metapher des Buchs der Natur, in welchem der ,Idiota‘ mehr Erkenntnis findet als der Gelehrte und in dem Weisheit gegen Wissenschaft steht, Jahrhunderte später „Selbstdenken“ genannt werden wird:212 Das Bücherwissen kann die Erfahrung nicht ersetzen. Die