2.2.1 Das epistemologische AprioriApriori als absolut gewisse ErkenntnisErkenntnis höchst intelligibler und wesensnotwendiger Sachverhalte
Ganz anders liegen die Dinge beim apriorischen ErkennenErkennen, mit dem die Grenze der ImmanenzImmanenz überschritten und WissenWissen über Transzendentes erworben wird. Dabei ist die Unabhängigkeit von jeder Erfahrung nicht im umfassenden Sinne Bedingung, sondern nur im Sinne der Erfahrung des Daseins, der RealkonstatierungRealkonstatierung. Beim AprioriApriori geht es von HildebrandHildebrandDietrich von nicht um die Frage, ob es Gehalte gibt, die unabhängig von irgendeiner SoseinserfahrungSoseinserfahrung bekannt sind, so wie bei Kants transzendentalen Anschauungsformen und Kategorien, bei Platons WiedererinnerungWiedererinnerung1 oder bei DescartesDescartesRené’ eingeborenen IdeenIdeen2. Beim Apriori geht es von HildebrandHildebrandDietrich von um nichts weniger als um „die erkenntnistheoretische Frage schlechthin“: „die Frage nach der ExistenzExistenz und der Möglichkeit absolut gewisser ErkenntnisErkenntnis höchst intelligibler und wesensnotwendiger Sachverhalte“.3
Das objektive Korrelat des Erkennens bildet dabei das Verhalten eines Gegenstandes mit einem SoseinSosein, das in sich notwendig ist, bei dem die Wegnahme auch nur eines Elementes die ganze EinheitEinheit zerstören würde. Mit einem Beispiel: Während bei einem Löwen ein Bein fehlen kann und er noch immer ein Löwe ist, lässt sich anhand des Soseins des Verzeihens etwa verdeutlichen, inwiefern sich dies bei den notwendigen EinheitenEinheitenchaotische, zufällige, morphische anders verhält. Denn angenommen, einer PersonPerson wird von einer anderen Person ein ÜbelÜbel zugefügt, das diese Person aber nicht aus freiem WillenWillen getan hat, so wird sie sie auch nicht um VerzeihungVerzeihung bitten, ja nicht einmal bitten können, so fest sie sich auch darum bemüht. Was sie allenfalls kann, ist MitleidMitleid für sie empfinden. Das VerzeihenVerzeihen setzt das WissenWissen um die eigene Schuldigkeit voraus, welches hier gerade fehlt. Vor allem aber kann das notwendige Sosein der Verzeihung nur dann erfahren werden, wenn keines der Elemente fehlt, also weder das willkürliche Zufügen eines Übels noch die EinsichtEinsicht in die eigene Schlechtigkeit oder die Selbstanklage vor der anderen Person, welche diese nach dem Mass der Aufrichtigkeit des Selbstanklägers gegebenenfalls dazu bewegt, diesem das zugefügte Übel zu verzeihen. Mit dem freien Akt des Verzeihens wird die Tat, die zwischen den Personen eine objektive Unordnung begründete, nicht dem Vergessen übergeben, sondern vielmehr als ein Sieg des Wohlwollens im GedächtnisGedächtnis verankert. An diesem Beispiel zeigt sich, wie das Fehlen auch nur eines Elementes die ganze Einheit des notwendigen Soseins des Verzeihens zerstört.
Mit der Einführung eines Terminus, in diesem Fall des Terminus „VerzeihenVerzeihen“, ist ein UrphänomenUrphänomen bezeichnet – und Urphänomene sind die meisten Wesenheiten4 –, das sich nicht in dem Sinne in einer DefinitionDefinition niederschlägt, als liesse sich „eine philosophische Untersuchung mit dem Nachschlagen in einem Lexikon auf die gleiche Stufe stellen“5. Das philosophische Erkenntnisbemühen „dient nicht dazu, die notwendige Soseinseinheit so in ihre Bestandteile aufzulösen, dass eine Definition derselben das anschauliche Erfassen auch vom Standpunkt der Kenntnisnahme ersetzen könnte“6. Dieses Bemühen beinhaltet vor allem eine volle prise de conscienceprise de conscience7 des Gegebenen, ein voll bewusstes „Innewerden von TatsachenTatsachen, die wir in unserem lebendigen Seinskontakt voraussetzen und daher schon irgendwie kennen“8. Ein ZielZiel, das aber unmöglich erreicht werden kann, wenn in einer falschen reduktionistischen Einstellung all das verworfen wird, was sich nicht durch eine formale Definition erschöpfend erklären lässt.9 Was die Definition allein vermag, ist, sie zu umschreiben, „indem sie einige essentielle Merkmale anführt, die zur Unterscheidung dieser Wesenheit von einer anderen genügen“10.
Zu glauben, „wir hätten ein Seiendes geistig ‚erobert‘, weil wir eine korrekte DefinitionDefinition von ihm besitzen“11, nennt von HildebrandHildebrandDietrich von einen Selbstbetrug. Womit er nicht zuletzt sein eigenes Verständnis der Philosophie zum Ausdruck bringt, die ihm nicht ein rein begriffliches Unternehmen ist, sondern – ganz im Sinne Newmans – einen persönlichen, realen Kontakt mit den notwendigen Soseineinheiten voraussetzt, unter „Betonung des existentiellen, unmittelbaren, intuitiven Kontaktes mit dem Gegenstand“12. Was aber ist ein realer Kontakt mit notwendigen Soseinseinheiten, denen aufgrund ihrer NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive doch nicht eine reale, sondern eine ideale Seinsweiseideale Seinsweise zukommt? Diese kritische Frage sei nicht an dieser Stelle beantwortet, sie bleibt dem weiteren Verlauf dieser Untersuchung vorbehalten.13
Was nun „die Frage nach der ExistenzExistenz und der Möglichkeit absolut gewisser ErkenntnisErkenntnis höchst intelligibler und wesensnotwendiger Sachverhalte“14 betrifft, so hat erstmalig Adolf ReinachReinachAdolf in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, „dass die AprioritätApriorität primär weder den Sätzen noch dem UrteilUrteil noch dem ErkennenErkennen zukommt, sondern dem ‚gesetzten‘, geurteilten oder erkannten SachverhaltSachverhalt“15. Und wie im Sachverhalt alle Apriorität wurzelt, so kommt auch nur dem Sachverhalt NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive zu.16 Für die BegründungBegründung der Möglichkeit philosophischen Erkennens ist der Sachverhalt von grundlegender Bedeutung: Erstens bildet er das objektive Korrelat des Erkennens und zweitens ist er Träger von Modalitäten. Letzteres ist denn auch der Grund, weswegen „die Apriorität primär weder den Sätzen noch dem Urteil noch dem Erkennen zukommt, sondern dem ‚gesetzten‘, geurteilten oder erkannten Sachverhalt“17. Insofern sind die Sachverhalte nämlich apriorisch, als „die Prädikation in ihnen, das b-Sein etwa, gefordert ist durch das WesenWesen des A, insofern es in diesem Wesen notwendig gründet“18. Notwendig gründet ein Sachverhalt dann in einem Wesen, wenn dieses selbst innerlich notwendig ist. Wie z.B. im Falle des Menschen, der LiebeLiebe, der GerechtigkeitGerechtigkeit, der Ungerechtigkeit, der WahrheitWahrheit, der Erkenntnis, des Willens, der Zeit, der Zahl oder des Verzeihens, usw.19
Das ErkennenErkennen von Sachverhalten, die in einem SoseinSosein gründen, das durch eine „strikte innere, in den Wesenheiten gründende NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive“ charakterisiert ist, zeichnet sich aus durch eine „unvergleichliche IntelligibilitätIntelligibilität“ und eine „absolute GewissheitGewissheit“.20 Nil volitum nisi cogitatum – kein Wollen ohne vorhergehendes Erkennen21 – ist ein Beispiel eines wesensnotwendigen Sachverhalts. Es handelt sich dabei um einen Relationssachverhalt,22 d.h. um das Verhalten eines Gegenstands zu einem anderen Gegenstand. Das Verhalten des Wollens zum Erkennen ist nun ebenso notwendig wie die WesenWesen selbst, deren Verhalten erkannt wird. Während das Bestehen des Sachverhalts „Erwärmung dehnt die Körper aus“ nur von aussen erfasst werden kann, wird der SachverhaltSachverhalt „Kein Wollen ohne vorhergehendes Erkennen“ von innen her verstanden. Das lateinische WortWort intelligere – Thomas von AquinThomas von Aquin sprach von einem Lesen im Innern (intus legere23) – bringt das Gemeinte treffend zum Ausdruck.
IntelligibilitätIntelligibilität ist dabei nicht gleich Definierbarkeit. Die notwendigen Wesenheiten sind weder von anderem deduzierbar noch auf anderes reduzierbar. Es lassen sich aber verschiedene Arten der Intelligibilität unterscheiden. Von HildebrandHildebrandDietrich von grenzt die Intelligibilität der Zahlen von derjenigen der FarbenFarben ab, und während er die Intelligibilität der Zahlen als dünn und linear bezeichnet, ja als zu dünn, um sich in sie versenken zu können,24 spricht er den Farben eine qualitative Fülle zu. Davon scheidet er Entitäten wie die PersonPerson, den WillenWillen, das Versprechen, die Wirkursache usw., die sich von den erstgenannten Arten nicht alleine „durch ihre gleichsam dreidimensionale Fülle und ihre TiefeTiefe abheben“, denen zudem „ein Sinnreichtum gemeinsam“ ist.25 Damit ist auch ein