Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a prioria priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.7
Auf diese Weise sucht KantKantImmanuel nachzuweisen, dass die Gegenstände der ErkenntnisErkenntnis sich nach den Menschen richten, und nicht umgekehrt. Folglich ist bei der „Entdeckung“ einer NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive in der Erfahrung davon auszugehen, dass der VerstandVerstand diese in das Objekt hinein gelegt hat. Doch da das philosophische ErkennenErkennen ein Erkennen a prioria priori sein muss – „denn sie soll nicht physische, sondern metaphysische, d.i. jenseits der Erfahrung liegende Erkenntnis sein“8 – bleibt die Frage: „wie kann Anschauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst vorhergehen?“9 Das ist nur auf eine einzige Art möglich, „wenn sie nämlich nichts anderes enthält, als die FormForm der Sinnlichkeit, die in meinem SubjektSubjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von den Gegenständen affiziert werde“10. Für KantKantImmanuel ist es allein die Form der sinnlichen Anschauung, wodurch Dinge a priori angeschaut werden können. Woraus aber notwendigerweise folgt, dass die MaterieMaterie der Erkenntnis nur so erkannt wird, wie sie den Sinnen erscheint, jedoch nicht, wie sie an sich ist.
Es wäre jedoch ein Missverständnis, anzunehmen, KantKantImmanuel sei einzig darum bemüht gewesen, den EmpirismusEmpirismus zu überwinden. Um sein Motiv zu verstehen, muss man sich klar machen, in welcher Situation sich die Philosophie zu seiner Zeit befand. „In der Gigantomachie der Frühphase der Neueren Philosophie scheiden sich die Geister über der Frage, wie das Besondere der philosophischen ErkenntnisErkenntnis […] zu begründen sei.“11 Nicht nur die Position des Empirismus stand damals zur Debatte, es gab auch einen Kontrahenten, den RationalismusRationalismus. Dessen Anfang sieht man gemeinhin mit DescartesDescartesRené gegeben, dem es einzig um das lobenswerte ZielZiel der Klarheit und Deutlichkeit als Selbstausweis der Philosophie ging. Nichtsdestotrotz fanden sich bei ihm drei Unzulänglichkeiten, die als Grundlegung einer rationalistischen Position verstanden wurden: „Seine Rede von den ‚eingeborenen IdeenIdeen‘, sein damit zusammenhängendes Verkennen der Rolle der Erfahrung […] und sein AxiomAxiom von der Unmöglichkeit der WechselwirkungWechselwirkung zwischen Ausgedehntem und Geistigem, bzw. Personalem.“12
So entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert ein Streit zwischen Empiristen und Rationalisten, in dessen Endstadium „die Rationalisten nichts anderes zu tun [wissen], als ihre zu Begriffen gewordenen IdeenIdeen aufeinander zu beziehen, auseinander zu entwickeln, durcheinander zu begründen“, währenddem die Empiristen „mit ihrer TheseThese, dass wir nichts eigentlich wirklich ‚haben‘ als unsere Sinneseindrücke“, in einen ähnlichen ImmanentismusImmanentismus fielen.13 Für beide Parteien wird die TranszendenzTranszendenz im Sinne der Beziehung zur wirklichen Welt zu einem blossen, unbeweisbaren Postulat.
Diesem Gegensatz von RationalismusRationalismus und EmpirismusEmpirismus stand KantKantImmanuel gegenüber. Es war seine Absicht, sowohl das inhaltliche AprioriApriori zu retten als auch Humes Prinzip zu akzeptieren, demzufolge nur die Erfahrung Erkenntnissen Gültigkeit verschaffen kann. So steht KantKantImmanuel am Ausgangspunkt, an dem er überlegt, wie es angegangen werden soll, gegenüber dem Rationalismus den Erfahrungserkenntnissen ins Recht zu verhelfen und gleichzeitig den Empirismus mit apodiktischen, jenseits der sinnlichen Erfahrung liegenden Erkenntnissen zu harmonisieren. KantKantImmanuel vermeint das „Bindeglied“ entdeckt zu haben, anhand dessen die polaren Auffassungen vereinbart werden können. Worin diese kantische Lösung genauerhin besteht, wird sich zeigen, wenn im Folgenden seine erkenntnistheoretischen und logischen Prinzipien in der hier relevanten Hinsicht analysiert werden.
1.2 Von den Unterschieden zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und Erkenntnissen a prioria priori und a posterioria posteriori
Allein Urteile mögen nun einen Ursprung haben, welchen sie wollen, oder auch, ihrer logischen FormForm nach, beschaffen sein, wie sie wollen, so gibt es doch einen Unterschied derselben, dem Inhalte nach, vermöge dessen sie entweder bloss erläuternd sind, und zum Inhalte der ErkenntnisErkenntnis nichts hinzutun, oder erweiternd, und die gegebene Erkenntnis vergrössern; die ersten werden analytische, die zweiten synthetische Urteile genannt werden können.1
Diesen Unterschied zwischen tautologischen und nichttautologischen Urteilen erkannt zu haben, darf zweifelsohne als echte EinsichtEinsicht Kants gelobt werden. Tautologische Urteile, also blosse Erläuterungsurteile, die lediglich das im Subjektbegriff bereits implizit enthaltene PrädikatPrädikat aussagen, werden von KantKantImmanuel als analytische Urteile bezeichnet. Solche Urteile sind zwar notwendig und allgemeingültig, aber sie sind nur eine erläuternde Begriffsanalyse und bedeuten keine Erweiterung des Wissens. Sie sagen nur aus, was im Subjektbegriff schon gesetzt war. Wenn jemand sagt: „Jeder Sohn stammt von Eltern ab“, so ist im Prädikat „von Eltern abstammen“ nur etwas wiederholt, das bereits im Subjektbegriff „jeder Sohn“ enthalten war.
Synthetische Urteile dagegen sind solcherart, dass im Subjektbegriff noch nichts vom Prädikatbegriff enthalten ist, bei denen durch Hinzufügung des Prädikatbegriffs der Subjektbegriff erweitert wird. Das KausalprinzipKausalprinzip, „jede Veränderung und jedes nicht-notwendige Sein bedürfen einer Wirkursache“, ist in Kants Terminologie synthetischsynthetisch. Denn das PrädikatPrädikat dieses Satzes, „einer UrsacheUrsache bedürfen“, fügt dem SubjektSubjekt, „jede Veränderung und jedes kontingente Seiende“, etwas Neues hinzu. Ebenso ist der SatzSatz „7 + 5 = 12“ nicht bloss analytischanalytisch, sondern synthetisch.2
Der BegriffBegriff von Zwölf ist keineswegs dadurch schon gedacht, dass ich mir bloss jene Vereinigung von Sieben und Fünf denke, und, ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. […] Man erweitert also wirklich seinen Begriff durch diesen SatzSatz 7 + 5 = 12 und tut zu dem ersteren Begriff einen neuen hinzu, der in jenem gar nicht gedacht war, d.i. der arithmetische Satz ist jederzeit synthetischsynthetisch.3
A priori-Erkenntnisse sind für KantKantImmanuel durch „apodiktische GewissheitGewissheit“4, „NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive und strenge Allgemeinheit“5 charakterisiert. Es sind solche Erkenntnisse, die der Erfahrung vorangehen, von ihr unabhängig sind, die nicht auf ihr beruhen, ebenso nicht von ihr abstrahiert sind, die generell nicht aus ihr stammen, sondern von ihr unabhängig gewonnen werden. Solcherart sind sämtliche analytischen Sätze. Denn die Ausfaltung des im Subjektbegriff bereits implizit Enthaltenen wird sowohl unabhängig von der Erfahrung gewonnen als es sich auch durch strenge NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive und apodiktische Gewissheit auszeichnet. Davon unterscheiden sich die empirischen Erkenntnisse, die ihre Quellen a posterioria posteriori, nämlich in der Erfahrung haben. Sämtliche Urteile, die als objektives Korrelat einen durch a posteriori-ErkenntnisErkenntnis gewonnenen SachverhaltSachverhalt haben, sind synthetischer NaturNatur. Die Frage jedoch, die KantKantImmanuel vor allem beschäftigte, galt nicht den synthetischsynthetisch aposteriorischen, sondern den synthetisch apriorischen Urteilen.
1.3 Was also versteht KantKantImmanuel unter „synthetischen Urteilen a prioria priori“, und wie steht es mit der Möglichkeit derselben?
Unter einem synthetischen UrteilUrteil a prioria priori versteht KantKantImmanuel ein Urteil, das über einen gegebenen BegriffBegriff hinausgeht und einen anderen damit verknüpfen kann, der in jenem nicht enthalten ist, und zwar so, als wenn dieser notwendig zu jenem gehöre.1 Doch „wie ist es nun der menschlichen VernunftVernunft möglich, eine solche ErkenntnisErkenntnis gänzlich a priori zu Stande zu bringen?“, fragt KantKantImmanuel und fährt mit einer weiteren Frage fort:
Setzt