Person und Religion. Ciril Rütsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ciril Rütsche
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000256
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voraus, der tief verborgen liegt, der sich aber durch diese seine Wirkungen offenbaren dürfte, wenn man den ersten Anfängen derselben nur fleissig nachspürte?2

      Diese ersten Anfänge vermeint KantKantImmanuel in den reinen Anschauungen gefunden zu haben. Doch: „Wie ist es möglich, etwas a prioria priori anzuschauen?“3 Oder anders formuliert: „Allein wie kann Anschauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst vorhergehen?“4

      Es ist […] nur auf eine einzige Art möglich, dass meine Anschauung vor der WirklichkeitWirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe, und als ErkenntnisErkenntnis a prioria priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anderes enthält, als die FormForm der Sinnlichkeit, die in meinem SubjektSubjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von den Gegenständen affiziert werde.5

      Damit ist die eigentliche kopernikanische Wendekopernikanische Wende vollzogen. D. h. der Versuch, nachzuweisen, dass die Gegenstände der ErkenntnisErkenntnis sich nach den Menschen richten müssen, und nicht umgekehrt. Folglich, wie bereits erwähnt, muss bei „Entdeckung“ einer NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive in der sinnlichen Anschauung geschlossen werden, dass der VerstandVerstand diese in das Objekt hinein gelegt hat. Woraus aber notwendigerweise folgt, dass die MaterieMaterie der Erkenntnis nur so erkannt wird, wie sie den Sinnen erscheint, jedoch nicht, wie sie an sich ist. Reine Formen der sinnlichen Anschauung sind ihm letzten Endes nur diejenigen von Raum und Zeit. Gelangen die aus der Sinneserfahrung gewonnenen Daten anschliessend in den Verstand, werden sie – spontan – kategorisiert. KantKantImmanuel unterscheidet zwölf logische Kategorien, denen er zuerkennt, „dass sie und die Grundsätze aus denselben a prioria priori vor aller Erfahrung fest stehen“6. Was den Sinnen die Anschauungsformen von Raum und Zeit, was dem Verstand die logischen Kategorien, das sind der VernunftVernunft schliesslich die IdeenIdeen. Mit dem Unterschied, dass die Ideen nicht a priori erkannt werden können, ja überhaupt nur eine Folge des falschen Gebrauchs der Vernunft seien, da man für konstitutivkonstitutiv halte, was in WirklichkeitWirklichkeit bloss regulativregulativ sei.7 „Konstitutiv“ versteht KantKantImmanuel dabei im realistischen, von ihm allerdings zurückgewiesenen Sinne, demgemäss die Erkenntnis der Ideen das WissenWissen auf transzendente Weise erweitert, während er „regulativ“ als dazu dienend versteht, die Erfahrung „durch nichts einzuschränken, was zur Erfahrung nicht gehören kann“.8

      Vor diesem Hintergrund macht KantKantImmanuel die Wissenschaftlichkeit der MetaphysikMetaphysik bzw. der Philosophie abhängig von der BegründungBegründung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a prioria priori,9 d.h. von Erkenntnissen, die sich durch „apodiktische GewissheitGewissheit“10, „NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive und strenge Allgemeinheit“11 auszeichnen. Die dabei aber nicht analytischanalytisch sind, das in einem gegebenen BegriffBegriff implizit Enthaltene also nicht bloss erläutern, sondern einen anderen Begriff, der in jenem nicht enthalten ist, als notwendig zu jenem gehörig erfassen,12 deren Quellen dabei aber nicht empirisch, sondern apriorisch sind, also jenseits der Erfahrung liegen, der inneren ebenso wie der äusseren.13 Darin enthalten ist die Unterscheidung zwischen einem immanenten und einem transzendenten Wirklichkeitsbereich: zwischen einem Bereich möglicher Erfahrung und einem solchen, der den Bereich möglicher Erfahrung überschreitet.14 In Verbindung mit seiner Erkenntnisdefinition, dergemäss die Anschauung und die Begriffe die Elemente einer jeden ErkenntnisErkenntnis ausmachen,15 vermag er die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a prioriSynthetische Erkenntnisse a priori für den immanenten Bereich – mit den genannten Anschauungsformen und Kategorien16 – zu begründen, verneint ihre Begründbarkeit aber hinsichtlich des transzendenten Bereichs. Denn wenn die Anschauung und die Begriffe die Elemente einer jeden Erkenntnis ausmachen, es im transzendenten Bereich jedoch keine sinnlichen Anschauungen mehr gibt – die Anschauungen des Menschen sind jederzeit sinnlich17 –, sind die jeweiligen Vernunftbegriffe oder IdeenIdeen blosse Gedankendinge oder Hirngespinste.18

      Zweifelsohne darf es angesichts des damaligen Zustands der Philosophie als ein „Zeichen der Grösse Kants“ bezeichnet werden, „dass er die innere Ordnung der Probleme mit Klarheit erkannte“ und „die Frage der Tatsächlichkeit der Wesenserkenntnis von der ihrer BegründungBegründung, nämlich der Frage nach den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ solchen Erkennens, mit Eindeutigkeit absetzte“.19 Nur war der Preis, zu dem er die empiristische und die rationalistische Position harmonisierte, viel zu hoch. Er tat dies zum Preis der „Deformierung des Erkenntnisbegriffs“20. „Wenn KantKantImmanuel Recht hat, so ist uns das unserem GeistGeist transzendente WesenWesen der WirklichkeitWirklichkeit radikal unbekannt; wir müssen nur die Dinge immer unter bestimmten allgemeinen Formen begreifen“, wobei wir höchstens noch wissen können, „unter welchen unserem Geist immanenten Anschauungs- und Denkformen wir die Welt betrachten müssen“.21

      Wie gesagt, kommt den IdeenIdeen keine konstitutive, sondern eine regulative Bedeutung zu. Mit anderen Worten, die Ideen sind keine Prinzipien, die die Anschauungen zu Begriffen aufbauen, vielmehr richten sie den Verstandesgebrauch auf ein problematisches ZielZiel hin aus. KantKantImmanuel versteht sie als PostulatePostulate der praktischen VernunftVernunft, d.h. als theoretische Annahmen, um sittliche TatsachenTatsachen verstehen zu können. Solche sind ihm namentlich die Ideen von GottGott, von der FreiheitFreiheit und von der UnsterblichkeitUnsterblichkeit.22 Und da er die Ideen nicht für unmittelbar erkennbar hält, trägt er dem BedürfnisBedürfnis nach TranszendenzTranszendenz insoweit Rechnung, als er die reine Vernunft erweitert, allerdings nicht in spekulativer Hinsicht, sondern nur in praktischer Absicht. Wenn er in diesem Sinne etwa sagen kann, dass „es […] moralisch notwendig [sei], das Dasein Gottes anzunehmen“23, so basiert diese Annahme nicht auf WissenWissen, sondern auf Glauben, auf reinem Vernunftglauben. Wie er andernorts sagt, musste er „das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“24. Zu Glaubenssachen erklärt KantKantImmanuel allerdings nur das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit,25 die Freiheit bildet eine Ausnahme, denn sie sei „[d]ie einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist“26. Von da her versteht sich nun auch, wie Kants – oben angesprochene – DefinitionDefinition der ReligionReligion als „ErkenntnisErkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“27 zu begreifen ist. Da er die Idee Gottes nicht für erkennbar hält, ist ihm auch die Religion als Ableitung „eines moralischen Gesetzgebers“28 nicht mehr denn „ein reiner praktischer Vernunftbegriff“29, ein Postulat.

      Doch ist uns die WirklichkeitWirklichkeit tatsächlich radikal unbekannt? Können wir nur wissen, mit welchen dem GeistGeist immanenten Anschauungs- und Denkformen wir sie betrachten müssen? Doch warum nimmt KantKantImmanuel das ErkennenErkennen eigentlich nicht davon aus? Warum sagt er eindeutig nicht, die von ihm gebotene Erklärung des Erkennens sei eine spontane Setzung, eine KonstruktionKonstruktion? Warum geht er vom klassischen, vom rezeptiven Verständnis des Erkennens aus? Aus keinem anderen Grund, als weil er ebenso inkonsequent ist wie jeder andere SkeptikerSkeptiker auch: Was er leugnet, setzt er im selben Atemzug wieder voraus. Denn wird seine Theorie, dass wir alles konstruieren, konsequent weitergedacht, so gelangt man letztlich an den Punkt des Nichtwissens, ob die Menschen tatsächlich so denken, wie er es behauptet. Die TheseThese, dass die ErkenntnisErkenntnis eine Konstruktion aus einem amorphen Etwas ist, das sinnlich wahrgenommen wird, scheitert auch an der Frage nach dem Was der Sinne. Wie kann man wissen, was Sinne sind, wenn es sich verhält, wie KantKantImmanuel behauptet, wenn die menschliche Konstruktion der Welt ihrer Wahrnehmung tatsächlich vorhergeht? Ja wie kann man überhaupt wissen, dass der amorphe Stoff, der verarbeitet und aus dem die ganze Welt konstruiert wird, durch die Sinne geliefert wird? Wenn KantKantImmanuel Recht hätte, könnte kein MenschMensch ein WissenWissen über andere Menschen erlangen, er käme über die Inhalte seines eigenen Bewusstseins nicht hinaus und müsste diese als das einzig Wirkliche gelten lassen.

      Auch Kants DefinitionDefinition der ReligionReligion als eines Postulats ist von da her zu verstehen. Denn wie soll etwa von einem schlechtweg unbekannten GottGott als einer moralischen NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive gesprochen werden? Das sagt doch offensichtlich nur jemand, der Gott erkannt hat, in welchem Mass auch immer. Zumal setzt er in den Sachen der Religion voraus, was er in seinen Kritiken verneint. Der Nachweis der Vernünftigkeit der Religion kann auf der Basis der Kantschen Theorien jedenfalls nicht erbracht werden, ist ihm das Transzendente doch gerade kein Gegenstand des Wissens. Das nachvollziehbare Begründen