2.1 Die ÄquivokationÄquivokation des Begriffs der Erfahrung
Seiner Kritik an Kants TranszendentalismusTranszendentalismus und ImmanentismusImmanentismus legt von HildebrandHildebrandDietrich von den Aufweis der Vieldeutigkeit des Begriffs der Erfahrung zugrunde. In der Erfahrung liege keine NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive, kann als Leitprinzip der neuzeitlichen ErkenntnistheorieErkenntnistheorie bezeichnet werden. Man findet es bei René DescartesDescartesRené (1596–1650) ebenso wie bei John LockeLockeJohn (1632–1704), bei David HumeHumeDavid (1711–1776) ebenso wie bei Immanuel KantKantImmanuel (1724–1804), um hier nur einige der namhaftesten Vertreter zu nennen. Was als Leitprinzip fungierte, trug allerdings deutliche Züge eines schlichten Vorurteils. Denn einfachhin ging man von der Univozität des Erfahrungsbegriffs aus, und zwar von einer Erfahrung, in der tatsächlich keine NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive zu finden ist, nämlich der Sinneserfahrung. Insofern nicht ohne LogikLogik, verlegte HumeHumeDavid die Wissenschaftlichkeit alleine in die abstrakten Wissenschaften der Geometrie, der Algebra und der Arithmetik. Auch KantKantImmanuel erwartete von der Sinneserfahrung keine NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive, sondern ausschliesslich von den Voraussetzungen der Erfahrung, d.h. von den die Sinnesempfindungen spontan überformenden Anschauungs- und Denkformen. Dagegen kommt von HildebrandHildebrandDietrich von das Verdienst zu, die ÄquivokationÄquivokation des Erfahrungsbegriffs aufgedeckt zu haben. Er hat gezeigt, dass NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive auch in der Erfahrung gegeben sein kann. Und zwar dann, wenn die Erfahrung differenziert wird in das Erfahren des Daseins einerseits, des Soseins andererseits. Wobei NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive nicht darin zu finden ist, dass ein bestimmtes Seiendes existiert, sondern alleine im Was, im SoseinSosein des Existierenden. Nach von Hildebrands Terminologie also nicht in der RealkonstatierungRealkonstatierung, sondern alleine in der SoseinserfahrungSoseinserfahrung.1
Hätte KantKantImmanuel dafür gehalten, dass jedes SoseinSosein in dem Sinne ein synthetischsynthetisch-apriorisches ErkennenErkennen ermöglicht, dass die rezeptive Sinnesempfindung und die spontane Überformung dieses Soseins mit den Anschauungsformen von Raum und Zeit bzw. den Denkformen die Grundlage geschaffen hätte, um apriorische und wissenserweiternde Erkenntnisse über diese Vorgänge zu erlangen, dann jedoch nicht über das Sosein, über die MaterieMaterie der ErkenntnisErkenntnis selbst. Für KantKantImmanuel eröffnet jedes Sosein dieselben – formellen – Erkenntnismöglichkeiten wie jedes andere auch. Wenn KantKantImmanuel die „apodiktische GewissheitGewissheit“2, die „NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive und strenge Allgemeinheit“3 als die Merkmale des synthetisch-apriorischen Erkennens benennt, dann widerspricht ihm von HildebrandHildebrandDietrich von hinsichtlich der strengen Allgemeinheit, d.h. der AllgemeingültigkeitAllgemeingültigkeit. Denn da die apriorischen Erkenntnisse nicht von jeder Erfahrung unabhängig sein müssen, so vor allem nicht von der SoseinserfahrungSoseinserfahrung, „verträgt sich der apriorische Charakter einer Erkenntnis sehr wohl damit, dass jemand, solange ihm die entsprechende Soseinserfahrung fehlt, den apriorischen Bestand nicht einzusehen vermag“4.
Obwohl das synthetischsynthetisch-apriorische ErkennenErkennen – in Kants Terminologie: das philosophische Erkennen5 – das Erfahren des Soseins voraussetzt, in dem der zu erkennende SachverhaltSachverhalt gründet, ist es dennoch möglich, einen realen Kontakt mit einem Seienden zu haben, dabei aber einer Erfahrung des Soseins zu ermangeln. Dies soll anhand eines Beispiels aus der Literatur veranschaulicht werden. In seinem Roman Die Brüder Karamasow zeigt Fjodor DostojewskiDostojewskiFjodor auf eindrückliche Weise den Unterschied auf zwischen der RealkonstatierungRealkonstatierung und der SoseinserfahrungSoseinserfahrung.
In seinen Jünglingsjahren führte der nachmalige Starez Sossima ein ausschweifendes Leben. Einmal, er diente zu der Zeit als Offizier, wurde er aufgrund einer von ihm ausgesprochenen Beleidigung zum Duell aufgefordert. Als er am Abend vor dem entscheidenden Tag nach Hause zurückkehrte, ärgerte er sich über seinen Diener Afanasi „und schlug ihn aus aller Kraft zweimal ins Gesicht, so dass es mit Blut überströmt war“. Hernach legte er sich schlafen. Als er am nächsten Morgen, am Tag des Duells, aufwacht, hat er ganz neuartige Gedanken. Sind die Gedanken zuerst nebulös, verhüllt, unscharf, werden sie alsbald immer klarer. Er denkt nicht etwa an das bevorstehende Duell, sondern an die Schläge, die er seinem Diener erteilte. „Alles trat mir da plötzlich aufs neue vor die Augen, gleich als ob von neuem alles vor sich gehe: er steht vor mir, und ich schlage ihn, weit ausholend, gerade ins Gesicht; er aber hält die Hände an die Hosennaht, den Kopf gerade, die Augen hat er aufgerissen wie an der Front, er zittert bei jedem Schlag und wagt nicht einmal die Hände zu erheben, um sich zu schützen – und da ist ein MenschMensch bis dahin gebracht worden, und da schlägt ein Mensch einen Menschen! Was ist das für ein Verbrechen! Es war, als ob eine scharfe Nadel mir die ganze Brust durchstossen habe.“6
Was hatte sich wohl in dieser Nacht zugetragen? Was war geschehen? Hatte er es am Vorabend noch als angemessen erachtet, seinen Diener zu schlagen, wenn er sich ob diesem ärgert, so steht ihm am nächsten Morgen die Würde und die Kostbarkeit dieses Menschen klar vor Augen. Und in dem Moment, in dem sich ihm die Würde und der Wert des Menschen in aller Schärfe offenbart, kann er es nicht mehr verstehen, wie er das jemals hat übersehen können.
Der Unterschied zwischen den beiden Erfahrungsarten, der RealkonstatierungRealkonstatierung und der SoseinserfahrungSoseinserfahrung, tritt hier deutlich zutage. Am Vorabend des Duells nimmt er wohl, wie bis anhin, seinen Diener wahr (Realkonstatierung). Die jeder PersonPerson eignende MenschenwürdeMenschenwürde dagegen vermag er nicht zu erfassen. Erst am nächsten Tag, nachdem er eine zutiefst personale Stellungsumkehr vollzogen hatte, „sah“ er die notwendig mit jeder menschlichen Person gegebene Menschenwürde (Soseinserfahrung).7
2.2 Die verschiedenen Arten des Soseins und der Unterschied zwischen empirischer und apriorischer ErkenntnisErkenntnis
Mit der Unterscheidung verschiedener Arten des Soseins begründete von HildebrandHildebrandDietrich von auch den erkenntnismässigen Unterschied zwischen dem empirischen und dem apriorischen ErkennenErkennen. An den Beginn seiner Grundlegung stellt er das WortWort, dass jedes seiende Etwas eine EinheitEinheit sei, „und sein SoseinSosein irgendwie als Einheit charakterisiert sein“ müsse, um im nächsten Schritt nach „den Graden der Sinnhaftigkeit in den Soseinseinheiten“ zu fragen.1 Dabei steigt er vom Niederen zum Höheren auf und bringt drei grundsätzlich verschiedene Einheitsstufen zu BewusstseinBewusstsein. Da die EinheitenEinheitenchaotische, zufällige, morphische der niedersten Stufe, die chaotischen und zufälligen EinheitenEinheitenchaotische, zufällige, morphische, kein genuines Erkennen ermöglichen, braucht an dieser Stelle auch nicht auf sie eingegangen zu werden. Mit dem Verweis auf die entsprechende Quelle sei dieser Einheitsart Genüge getan.2 Die auf der nächsthöheren Stufe gelegenen EinheitenEinheitenchaotische, zufällige, morphische dagegen „haben ein sinnvolles Sosein, eine Washeit, die uns berechtigt, von wirklichen Typen zu sprechen“3.
Im Unterschied zu einer zufälligen EinheitEinheit, wie z.B. einem Gerümpelhaufen oder einer Notenfolge, die keine Melodie ist, wird der echte Typus „nicht von aussen zusammengehalten, sondern besitzt eine vom ‚ZentrumZentrum‘ ausgehende Einheit; seine Elemente sind nicht zufällig, sondern von innen her sinnvoll verbunden“4. Solcherart sind z.B. das Gold, der SteinSteinEdith, das Wasser, der Löwe oder das Pferd. Von HildebrandHildebrandDietrich von unterscheidet im SoseinSosein der Gegenstände dieser Art zwei Schichten: die Erscheinungseinheit und die konstitutive Einheit. Die erste Schicht bezeichnet er als das „‚Gesicht‘, als die Einheit der äusseren ErscheinungErscheinung“, und unterscheidet sie von der zweiten Schicht, „bei der es sich um das Sosein dieses Materietyps handelt, der dieses Gesicht trägt“.5 Um Erkenntnisse über das Gesicht eines solcherart geeinten Seienden – von HildebrandHildebrandDietrich von spricht von den morphischen EinheitenEinheitenchaotische, zufällige, morphische – erlangen zu können, muss es von aussen beobachtet werden. Die konstitutive Einheit dagegen kann durch Experimente und durch die Verwendung von Instrumenten – wie etwa des Mikroskops – sozusagen zusammengesetzt werden. Trotz aller Sinnhaftigkeit, tragen sie aber dennoch „das Merkmal des Kontingenten und ‚Erfundenen‘“6. Bei der ErkenntnisErkenntnis