Wir können uns einen Mann mit zwei Köpfen, den Oberleib eines Menschen verbunden mit dem Unterleib eines Pferdes vorstellen, oder auch einzelne Stücke, einen Kopf, eine Nase, ein Ohr für sich. Dagegen ist es unmöglich, eine ‚abstrakte Idee‘ zu bilden, z.B. die ‚Idee‘ einer Bewegung abzutrennen von der eines bewegten Körpers. […]
Wir haben in Ansehung gewisser Inhalte die EvidenzEvidenz, dass die Änderung oder Aufhebung mindestens eines der zusammen mit ihnen gegebenen (aber nicht in ihnen eingeschlossenen) Inhalte sie selbst ändern oder aufheben müsse. Bei anderen Inhalten fehlt uns diese Evidenz […].
In der ‚NaturNatur‘ des Inhalts selbst, in seinem idealen WesenWesen, gründet keine Abhängigkeit von anderen Inhalten, er ist in seinem Wesen, durch das er ist, was er ist, unbekümmert um alle anderen. Es mag faktisch so sein, dass mit dem Dasein dieses Inhalts andere Inhalte, und nach empirischen Regeln, gegeben sind; aber in seinem ideal fassbaren Wesen ist der Inhalt unabhängig, dieses Wesen fordert durch sich selbst, also a prioria priori, kein mitverflochtenes anderes Wesen.28
Während die Gegenstände der empirischen Wissenschaften sinnlich sind, sind diejenigen der apriorischen Wissenschaften kategorial. Jene sind ihm real, diese aber ideal.29 Dass diese Unterscheidungen zur BegründungBegründung der WesensnotwendigkeitWesensnotwendigkeit zu kurz greifen, wird sich weiter unten zeigen, wenn mit Dietrich von HildebrandHildebrandDietrich von die drei grundsätzlich verschiedenen Wesenheiten unterschieden werden, anhand derer die objektive Wesensnotwendigkeit begründet werden kann. Jedenfalls haben sich nach all den objektivistischen Meisterstücken die ersten Anzeichen des Übergangs zum transzendentalen IdealismusTranszendentaler Idealismus30 bei der Gleichsetzung der Realität mit der Zeitlichkeit abgezeichnet.31 HusserlHusserlEdmund unterliegt damit dem seit KantKantImmanuel virulenten Einfluss, dass man sich nicht mehr über das BewusstseinBewusstsein hinaus traut.32 Ein Sein im Bewusstsein ist ihm dementsprechend nur das Sein des Idealen, währenddem das Sein des Realen ein „Sein ausserhalb des Bewusstseins“33 ist. „Real ist das Individuum mit all seinen Bestandstücken; es ist ein Hier und Jetzt.“34
Husserls Versuch schliesslich, das objektive AprioriApriori dennoch mit der MethodeMethode der phänomenologischen EpochéEpoché zu retten, vermochte das objektive An-sich weder einzuholen noch zu begründen. Denn durch die Einklammerung der „Generalthesis der natürlichen Einstellung“, die ihm „jedes UrteilUrteil über räumlich-zeitliches Dasein völlig verschliesst“, bleibt er nach all den erhellenden Einsichten in transzendente Wirklichkeiten bei der Sphäre seines eigenen Bewusstseins stehen und studiert, „was wir in ihr immanent finden“, um von da her „die EinsichtEinsicht zu vollziehen, auf die wir es abgesehen haben, nämlich die Einsicht, dass BewusstseinBewusstsein in sich selbst ein Eigensein hat, das in seinem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird“, sondern „uns das ‚reine‘ Bewusstsein und in weiterer Folge die ganze phänomenologische Region zugänglich macht“.35 Von da her mündeten Husserls Bemühungen mit dem transzendentalen Ego in die transzendentale Subjektivität und den transzendentalen IdealismusTranszendentaler Idealismus.36 Welche Konsequenz er leichtlich hätte umgehen können, wäre er nicht auf den IrrtumIrrtum verfallen, dass es alleine die Einklammerung des Daseins und dadurch die Unabhängigkeit von der NaturNatur des Objekts sei, wodurch Gegenstände apriorisch erkannt werden könnten. Wenngleich HusserlHusserlEdmund die BegründungBegründung apriorischen Erkennens im Letzten nicht gelungen ist, so bereitete er mit der Einklammerungstheorie immerhin den Boden, von dem aus von HildebrandHildebrandDietrich von die Apriorierkenntnis mit den drei grundsätzlich verschiedenen Wesenheiten schliesslich zu begründen vermochte.
6.3 Die Grenzen der husserlschen PhänomenologiePhänomenologie als Ausgangspunkt des phänomenologischen Realismus
Einige der wesentlichen Merkmale der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie haben sich aus der Überwindung Husserlscher Irrtümer und falscher Folgerungen ergeben. Da ist an erster Stelle die folgenschwere Identifizierung der Realität mit der Zeitlichkeit, welche unweigerlich zur KonklusionKonklusion führt, dass der MenschMensch zu keinen objektiven Erkenntnissen in der Lage ist. Eine Voraussetzung, deren Überwindung die Denker der Realistischen Phänomenologie sich besonders gewidmet haben. Eng mit der Überwindung dieser falschen Voraussetzung ist dann auch die Zurückgewinnung der ExistenzExistenz als eines Gegenstands der Philosophie verbunden. Auch in dieser Hinsicht hat der phänomenologische Realismus nicht nur um die Bedeutung gewusst, sondern war auf der Basis der Tradition in der Lage, die Erkennbarkeit der realen Existenz zu begründen. Als Tradition wird hier einerseits AugustinusAugustinus mit seiner Überwindung des SkeptizismusSkeptizismus durch die absolut gewisse ErkenntnisErkenntnis der eigenen Existenz verstanden: „Wenn ich mich täusche, bin ich ja. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen; also bin ich, wenn ich mich täusche.“1 Andererseits auch dessen Wiederaufnahme durch René DescartesDescartesRené (1596–1650), der in der Erkenntnis der eigenen Existenz den archimedischen PunktArchimedischer Punkt fand, an dem jeder Skeptizismus zerschellt.2
Schliesslich bleibt von den verschiedenen Beiträgen, die hier angeführt werden könnten, vor allem Dietrich von Hildebrands EinsichtEinsicht zu erwähnen, dass sehr wohl auch in der realen Welt Erkenntnisse von Wesensnotwendigkeiten erlangt werden können. Dieser wahrhaft klärende Beitrag von Hildebrands wird des Weiteren zu beleuchten sein, wenn seine epistemologische Hauptschrift Was ist Philosophie? im nächsten Punkt in ihren Grundzügen auseinandergesetzt werden wird. Jedenfalls hat sich aus der Beschäftigung mit Husserls Logische[n] Untersuchungen verdeutlicht, an welcher Stelle sich die Realistischen Phänomenologen von HusserlHusserlEdmund und seiner Philosophie distanzierten: Bei der Abkehr vom konsequenten Objektivismus und seiner Zuwendung zum transzendentalen Ego, das kein archimedischer Punkt in der objektiv existierenden Welt sei, und zudem auch seiner Annahme der Abhängigkeit der notwendigen Wesenheiten vom SubjektSubjekt. Von da her wird die Realistische PhänomenologiePhänomenologie als eine Bewegung verstanden, die Husserls MaximeMaxime „Zurück zu den Sachen selbst“ im Geiste der Logische[n] Untersuchungen in einem realistischen und objektivistischen Sinne deutet.
7 Von Hildebrands „Was ist Philosophie?“ als grundlegende Schrift zur MethodeMethode der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie und die Frage nach der Originalität seines Beitrags
Im Blick auf die verschiedenen Irrtümer, die die Philosophie zu allen Zeiten umtreiben, war es von HildebrandHildebrandDietrich von in Was ist Philosophie? vor allem um die Rehabilitierung der Philosophie zu tun, wie vor ihm bereits HusserlHusserlEdmund,1 für den die LogikLogik sich gleichsam im Zustand einer Schlacht aller gegen alle befand (bellum omnium contra omnes).2 Die Entstehung von Was ist Philosophie? hat allerdings eine erwähnenswerte Geschichte, die ihren Anfang mit – dem damaligen Giessener3 – Professor Theodor SteinbüchelSteinbüchelTheodor (1888–1949) nahm, der von HildebrandHildebrandDietrich von 1932 bat, den Einleitungsband zu einer Serie zu übernehmen, die ein philosophisches Handbuch werden sollte. Von HildebrandHildebrandDietrich von nahm diese Einladung nach jahrelanger erkenntnistheoretischer Arbeit gerne an und nach gewissen Änderungsvorschlägen Professor Steinbüchels wurde der Druck sogleich in Angriff genommen. Aufgrund des Kampfes, den von HildebrandHildebrandDietrich von von Wien aus gegen den Nationalsozialismus geführt hatte,4 war es für ihn im nationalsozialistischen Deutschland unmöglich, Bücher zu veröffentlichen. Doch 1948 teilte ihm der Bonner Verlag Hanstein schliesslich mit, das Buch nun zu veröffentlichen.5 1950 erschien es in Bonn unter dem Titel Der SinnSinn philosophischen Fragens und Erkennens. Im Anschluss überarbeitete es von HildebrandHildebrandDietrich von und fügte ihm noch einige Kapitel hinzu, was ein vergleichender Blick in die beiden Bücher6 eindeutig zu erkennen gibt. Ins Englische übersetzt wurde es von William MarraMarraWilliam und erschien 1960 unter dem Titel What is Philosophy? (Milwaukee, 1960). Die deutsche Ausgabe – Was ist Philosophie? (Stuttgart, 1976) – besorgten Karla MertensMertensKarla und Fritz WenischWenischFritz.7
Doch was zeigt er mit dieser Schrift, was ist ihr origineller Beitrag? Wie für HusserlHusserlEdmund, so ist die Frage nach der apriorischen ErkenntnisErkenntnis auch für seinen Schüler von HildebrandHildebrandDietrich