Distinktion durch Sprache?. Martina Zimmermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Zimmermann
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300342
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oder in die Schule“ (Mayer 1914: 380), nahm die Mobilität weiter zu. In Graubünden gab es nämlich damals nur das Kloster in Disentis und die evangelische Nikolaischule in Chur (Maissen 1957). Deswegen kamen im Jesuitenkolleg Luzern im Zeitraum 1588–1778 rund 215 Bündner Studenten in den Genuss ihrer katholischen Schulbildung (Maissen 1957: 106). Mobilität war somit erstrebenswert und sozusagen unumgänglich. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass ihr auch in einem der „ludi autumnales“ (Herbstspiele), die sehr bedeutungsvoll waren, öffentlich aufgeführt wurden und den Übergang von einem Schuljahr zum andern markierten (Ehret 1921), ein Platz eingeräumt wurde. 1715 handelt das von der „studierende[n] Jugend dess Gymnasii der Gesellschafft Jesu zu Lucern“ verfasste Stück davon, wie Gerold aus Liebe zu Christus die Regierung trotz Widerstand des ihm gut gesinnten Adels und der ihn schätzenden Untertanen an seinen ältesten Sohn übergab, um in das „ober Teutschland“ zu reisen (Jugend dess Gymnasii der Gesellschafft Jesu zu Lucern 1715: s.p.). Aus Sicht der Jesuiten im Kollegium in Luzern – viele davon waren zwecks ihrer theologischen Studien selber mobil geworden – war bildende Mobilität positiv konnotiert und hing direkt mit Glaubensfragen und theologischer Ausbildung zusammen.

      Ende des 17. und anfangs des 18. Jahrhunderts wurden junge Männer von Adel aus der heutigen Schweiz wie aus umliegenden Ländern auch zur weltlichen Bildung in die Ferne geschickt, und sie begaben sich auf die „Grand Tour“ 2 (Cohen 1992; Boutier 2006). Ihre Reise, die zwischen drei und fünf Jahren dauerte, führte sie ins Königreich Frankreich, in Regionen des heutigen Italien, ins damalige Heilige Römische Reich und in die Republik der Vereinigten Niederlande. Die Dauer ihrer Tour ermöglichte es ihnen, längere Zeit am selben Ort zu verweilen und diesen kennenzulernen. Aufenthalte in Kulturstädten wie Florenz oder Rom, Universitätsstädten wie Jena oder Rotterdam, Fürsten- und Residenzstädten wie Potsdam oder Wien, ein Besuch auf der Insel Capri oder auf Ischia, die Besichtigung antiker Ausgrabungsstätten auf Sizilien und Erholung in Aachen oder Spa gehörten für gewöhnlich dazu. Von Tutoren begleitet, die der notwendigen Sprachen mächtig waren, übten sich diese jungen Männer zwischen 14 und 20 Jahren in Fertigkeiten wie Fechten, Reiten, Tanzen und bildeten sich beim Besichtigen von Bauten und Betrachten von Gemälden kulturell weiter (Brauer 1959). Ferner wurden ihnen standesgemässe Umgangsformen beigebracht, und sie konnten sich die französische Sprache aneignen (Green 2014). Nach einer solch ausgedehnten Bildungsreise „the young man returned […] polished and accomplished, a complete gentleman“ (Cohen 1992: 242). Mit der „Grand Tour“ verband man aber mehr als das Erlangen spezifischer Fähigkeiten. Michèle Cohen (1992: 242–243) fasst zusammen, welche Vorteile ihr von Autoren der damaligen Epochen zugeschrieben wurden: Howell betonte 1640 die Bereicherung des Geistes, die Verbesserung des Urteilsvermögens, die Verfeinerung der Manieren und überhaupt die Möglichkeit, einen jungen Mann bis zur Perfektion zu formen. Gailhard war 1678 der Überzeugung, dass der junge Mann, indem er reise, die Charaktere von Männern und deren Sitten kennenlerne, was zur Folge habe, dass dieser zum geeigneten Begleiter für jedermann werde. Laut Locke ermöglichte das Reisen den Erwerb anderer Sprachen. Ausserdem unterstrich er, dass man im Allgemeinen weiser werde, wenn man sich mit verschiedenen Sitten, Manieren, Lebensweisen und Menschen auseinandersetze (vgl. Bauman & Briggs 2003). Die von verschiedenen Autoren genannten Vorteile – sie waren allesamt selbst Gereiste und Privilegierte – unterschieden sich kaum voneinander. Fechten, Reiten und Tanzen zählten zu den Kernkompetenzen eines jungen Gentleman. Sitten, Benimm und Geschmack – z.B. „to refine taste and learn to be a Connoisseur“ (Breval 1726) – waren ebenso relevant. Solche Finessen gehörten zu den “marques de distinction“ (Bourdieu 1979), deren Aneignung einem Edelmann nicht verwehrt werden durfte, die ihn auszeichneten und die er sich dank der Mobilität zu eigen machen konnte (Cohen 1992). Darüber hinaus trug die „Grand Tour“ zur Etablierung eines geistigen wie auch kulturellen Netzwerks unter den Privilegierten in Europa bei (Plaschka & Mack 1987).

      Verschiedene Faktoren begünstigten die Mobilität: dass dort, wo der Bildungsreisende herkam, ihm entsprechende Bildungsinstitutionen fehlten, dass ihm der Aufenthalt in der Fremde die Möglichkeit bot, eine weitere Sprache zu lernen und dass er in den Genuss einer erwünschten Erziehung kam, die ihm einen gewissen sozialen Aufstieg versprach. Trotz dieser Vorzüge blieben die Werte der Fremdkultur als Erziehungs- und Bildungsmittel nicht unangefochten. In der damaligen Eidgenossenschaft gipfelte diese kritische Haltung in einer Empfehlung, die 1769 von der „Helvetischen Gesellschaft“ abgegeben wurde. Sie regte dazu an, nach Möglichkeit Bildungsreisen und Erziehungsauf­enthalte künftig innerhalb der Landesgrenzen und nicht mehr in Frankreich zu absolvieren (Gyr 2013)3.

      Unter anderem führte diese neue Bewertung der „gar Frankreich’schen Kultur“ dazu, dass innerhalb der Eidgenossenschaft eine neue Mobilitätsbewegung entstand, die mit Bildung, Erziehung und Sprache verknüpft war. Diese muss vor dem Hintergrund des breiter werdenden lokalen Bildungsangebots wie auch, im 19. Jahrhundert, vor dem der territorialen Bestrebungen betrachtet werden. So war etwa die Welschlandgängerei (Gyr 1989) verbreitet, die über eine kleine studentische Elite hinausging und sämtliche Schichten erfasste, wobei die Möglichkeit, neben der Ausbildung die französische Sprache zu erlernen, eine erhebliche Rolle spielte. So wurden sogar junge Frauen aus der Deutschschweiz – Frauen waren bis ins späte 19. Jahrhundert mehrheitlich immobil – in die Westschweiz geschickt. Dabei handelte es sich anfangs um Töchter aus bürgerlichen Kreisen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch um Mädchen aus dem bäuerlichen Milieu. Letztere dienten vorwiegend als Volontärinnen im Haushalt oder im Dienstbotenwesen.

      Die zunehmende Entwicklung der Nationalstaaten, welche es notwendig machte, dem Staat zudienende Spitzenbeamten an eigenen Universitäten auszubilden, grenzte die Möglichkeiten zur studentischen Mobilität über Landesgrenzen hinweg zusätzlich ein (Rüegg 2010). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden Massnahmen ergriffen, um an die „alten Formen“ der Mobilität anzuschliessen (Heinemann & Krametz 2008). Seit den 80-er Jahren entwickelte die Schweizer Hochschulpolitik Förderprogramme, die der globalen wie auch nationalen Mobilität entgegenkamen. Im Zentrum der hochschulpolitischen Bestrebungen standen dabei die europäische Integration und der landesinterne Austausch. Förderprogramme wie CH-Unimobil oder Erasmus zielten darauf ab, Studierenden ein- oder zweisemestrige Gastaufenthalte an anderen tertiären Institutionen inner- oder ausserhalb der Landesgrenzen zu ermöglichen; danach sollten sie ihr Studium an der Heimuniversität fortsetzen. Zu den übergeordneten Zielen der frühen Mobilitätsförderung gehörten erstens der vermehrte Austausch zwischen Hochschulen, Studierenden und Dozierenden, um Forschung und Lehre zu verbessern, Hochschulsysteme zu stärken und einzelne Institutionen konkurrenzfähiger zu machen (Dubach & Schmidlin 2005: 11). Zweitens stand der Zusammenhalt (supra-)regionaler oder -nationaler Räume im Zentrum.

      In der „Deklaration von Bologna“, in welcher die europäischen Bildungsminister 1999 ihren Willen zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums bekundeten, spielte die Mobilität abermals eine herausragende Rolle. Kurz darauf wurde in der Schweiz für die Jahre 2004 bis 2007 vom Bundesrat der Wunsch geäussert, die binnenschweizerische Mobilität über die Sprachraumgrenzen hinweg massgeblich zu unterstützen (Dubach & Schmidlin 2005). Dieser verstärkt politische Blick auf studentische Mobilität muss im Zusammenhang mit einem dritten Ziel betrachtet werden, welches die zwei oben genannten nach und nach ablöste. Ab 2000 standen vermehrt die Tauglichkeit im ökonomischen Wettbewerb und die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums im Zentrum (vgl. Dixon 2006).

      Indem man erklärte, sich für die Mobilität im Hochschulwesen einzusetzen, bemühte man sich auch, Mobilitätshindernisse aller Art aus dem Weg zu räumen. Dementsprechend gross war die Bestürzung, als nur einige Jahre später, im Februar 2014, die Masseneinwanderungsinitiative von der Mehrheit des Schweizer Volks angenommen wurde und u.a. den Zugang zum internationalen Austauschprogramm Erasmus+ für Studierende in der Schweiz in Frage stellte. Dieses Abstimmungsresultat erhitzte die Köpfe und setzte eine grundlegende Diskussion über die studentische Mobilität in Gang, eine Diskussion, in der in verdichteter Form ersichtlich wurde, welche Vorteile welcher studentischen Mobilität heutzutage zugeschrieben werden. VertreterInnen verschiedener tertiärer Bildungs- und Forschungsinstitutionen hielten in einem Appell4 fest, weshalb die studentische Mobilität erhalten bleiben sollte und welche fatalen Folgen deren Aufhebung für die Studierenden und das Land insgesamt mit sich bringen würde. So wiesen die VerfasserInnen darauf hin, dass „der