Distinktion durch Sprache?. Martina Zimmermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Zimmermann
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300342
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das Projekt mit Studierenden im Schweizer Kontext, die sich nur bedingt freiwillig für die Mobilität entscheiden. Dies rückt die akademische Mobilität in ein neues Licht und lässt Fragen zur Immobilität aufkommen. So wird in dieser Arbeit immer wieder auf Immobilität verwiesen, was zum Verständnis der Mobilität beiträgt und dazu verhilft, die der Mobilität nachgesagten Vorzüge (aber auch Herausforderungen) nachzuvollziehen. Der Blick auf die wechselseitige Beziehung zwischen Mobilität und Immobilität zwingt ausserdem dazu, die Wertung „VerliererInnen“ kritisch zu bedenken.

      Zum einen soll dieses Projekt einen wissenschaftlichen Beitrag zur Erforschung der akademischen Mobilität leisten. Zum andern möchte es zum kritischen Nachdenken in der universitären Umgebung anregen und aufzeigen, welche – bisher wenig thematisierten – Eigenheiten die Mobilität über Sprachgrenzen hinweg hat und inwiefern der Sprache auch machtbezogene Attribute anhaften, die in der wissenschaftlichen Literatur zur studentischen Mobilität allenfalls in Randbemerkungen vorkommen, obwohl sie, wie in den analytischen Kapiteln dargestellt wird, reale Konsequenzen für soziale Akteure haben.

      2.2.2 Positionierung

      Damit, dass die Lücken in der Erforschung der akademischen Mobilität erkannt sind und das an sie schliessende Vorhaben skizziert ist, ist auch angedeutet, welche thematischen, methodologischen und epistemologischen Aspekte im Rahmen dieser Arbeit zentral sind. Das Interesse am Stellenwert der Sprache im Kontext der akademischen Mobilität über Sprachgrenzen hinweg, an damit zusammenhängenden national- und lokal-politischen, wirtschaftlichen und historischen Faktoren, an Fragen nach Machtprozessen und Ideologien, die der Mobilität bzw. Immobilität anhaften, und an einer interpretativen und kritischen Betrachtungsweise führt zu einer epistemologischen Positionierung innerhalb der kritischen Soziolinguistik. Aber was bedeutet „kritische Soziolinguistik“? Um dies zu erläutern, sind einige Ausführungen erforderlich, die dazu dienen sollen, die Soziolinguistik an und für sich und ihre „kritische“ Komponente zu portraitieren.

      Die Bezeichnung „Soziolinguistik“ wird seit den 50er-Jahren gebraucht, zunächst in den Vereinigten Staaten und später auch in Europa. Lange war die Bezeichnung für das Feld uneinheitlich1. So zirkulierten Begriffe wie „linguistic anthropology“, „sociologie du langage“, Begriffe, die sich weder deckten noch klar unterscheidbar waren. Inzwischen hat sich ein Konsens darüber durchgesetzt, was mit Soziolinguistik gemeint ist. Sie wird als „Felddisziplin“ angesehen, also als eine Domäne, in welcher die Datenerhebung im Feld geschieht und welche kommunikative Daten verschiedener Art beinhaltet. Weiter wird unterstrichen, dass – in Anlehnung an die Arbeit der Ethnolinguisten (vgl. Boutet 1994) – soziale Situationen, in welchen sprachliches Material entsteht, einer Analyse unterzogen werden sollen. Dieser Leitsatz, Sprache immer auf dem Hintergrund der sozialen Produktionsbedingungen zu ergründen, ist weitgehend akzeptiert. Soziolinguisten verwarfen bereits früh schon die Idee eines statischen und idealen Sprachsystems, die von Strukturalisten (de Saussure 1916) oder Generativisten (Chomsky 1965) vertreten wurde, welche „langue“ und „parole“ strikte trennten, also an der Unterscheidung zwischen dem abstrakten Sprachsystem und dem fluiden Sprachgebrauch festhielten (vgl. dazu auch Duchêne 2008). Stattdessen waren Begründer der Soziolinguistik wie William Labov, John Gumperz und Dell Hymes davon überzeugt, dass Sprache sich im Gebrauch manifestiere, nicht neutraler Natur sei und dass ihr deshalb stets soziale Aspekte anhaften würden (Ammon 1987).

      Seit den 50er-Jahren wurden Arbeiten von grosser Bandbreite und mit unterschiedlichen Positionierungen produziert. Während die einen Soziolinguis­tInnen sich mit Korrelationen auseinandersetzten und ergründeten, wie Sprache und soziale Produktionsbedingungen zusammenspielen (z.B. Akzent und geographische Merkmale einer Region), tendierten andere dazu, Soziologie und Linguistik als Domänen zu vereinen und interdisziplinär zu arbeiten. Wieder andere forderten dazu auf, den theoretischen Link zwischen der Sprache und der Gesellschaft zu überdenken, d.h. beispielsweise die Frage nach dem sozialen Wert von Sprachen und Sprachpraktiken zu stellen und der Frage nach der Deutungshoheit nachzugehen. Wer die zuletzt genannte Frage verfolgt, ergründet u.a., welche Sprache in einer sozialen Interaktion welchen Wert von wem zugeschrieben bekommt und welche Konsequenzen solche Verhandlungsprozesse mit sich bringen. Diese letzte Positionierung ist der eingangs erwähnten „kritischen Soziolinguistik“ zuzuordnen (Heller 2002; Boutet & Heller 2007). Sie geht den Fragen des Machtausübens, -zuschreibens oder -absprechens auf den Grund, Fragen, die durch Sprache selbst, damit verbundene Kompetenzen und Sprachgebrauch aufkommen (Heller 2002, 2003; Duchêne 2008, 2009), und ermöglicht es, zu zeigen, wie und weshalb Vorgänge geschehen und welche Konsequenzen sie haben (Boutet & Heller 2007: 312).

      Solche Fragen sind im Zusammenhang mit meinem Interesse an der akademischen Mobilität über Sprachgrenzen hinweg und am Stellenwert der Sprache, der mit dieser Mobilität verbunden ist, besonders relevant. So wählen Tessiner Studierende – wie Stefanias Statement zu Beginn zeigt – ihren Studienort auch im Hinblick auf die Sprache, die sie dort zu erlernen hoffen. Die Wahl, in der Deutschschweiz (und eben nicht in der italienischsprachigen Herkunftsregion) zu studieren, hängt mit Vorteilen zusammen, die mit einer gewissen Sprache assoziiert werden. Diese wiederum sind im lokalen Raum mit der Zeit zu „Vorteilen“ geworden. So muss der Wunsch von Studierenden, gewisse Sprachen besser zu beherrschen, im lokalen Markt analysiert werden, der historisch gewachsen ist. Innerhalb dieses Markts sind gewisse Währungen stärker oder sind, mit anderen Worten, gewisse Sprachen einträglicher. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass der Markt mit seinen Regeln erheblichen Einfluss auf das Handeln von Menschen hat. Schliesslich hängt deren Zugang zu sozialen Positionen, Ressourcen und Kapital davon ab.

      Die kritische Soziolinguistik ordnet soziale und sprachliche Praktiken in einen bestimmten Raum und einen spezifischen historischen Kontext ein. Jede Interaktion ist in einem zeitlichen und örtlichen Rahmen situiert und findet auf einem Hintergrund statt, der von den „trajectoires“2 der Akteure getragen ist. Materielle Bedingungen gehören zu diesem Hintergrund; sie sind an ihn gebunden und schränken die Handlungsmöglichkeiten ein (Giddens 1984). Somit sind soziale Phänomene und damit verbundene Praktiken situiert, kontextualisiert und nicht neutral. Dieser Ansatz geht darüber hinaus, Gemeinschaften und darin erfolgende Interaktionen als gegeben zu betrachten. Er versucht stattdessen, sozialen Akteuren und ihren „trajectoires“ zu folgen und dabei die vorhandenen Ressourcen zu berücksichtigen. Um diese „trajectoires“ zu ergründen und zu verstehen, inwiefern Sprache dabei welchen symbolischen oder materiellen Stellenwert erlangt, ist die Berücksichtigung des Markts hilfreich. Gepaart mit einem ethnographischen Ansatz, der die Akteure, ihre Interaktionen und vorhandenen Ressourcen in diesem Markt situiert, erlaubt es die Idee des Markts, die Interessen und Möglichkeiten zu begreifen, die den Handlungsspielraum der Akteure wie auch die von ihnen unternommenen Handlungen beeinflussen (Heller & Martin-Jones 2001; Heller 2002). Zusammenfassend kann die dieser Arbeit zugrunde liegende epistemologische Positionierung einem interaktionellen, konstruktivistischen Paradigma zugeschrieben werden, das eine ethnographische Herangehensweise bedingt.

      2.2.3 Forschungsfragen, Daten und Methodologie

      Diese Arbeit wird vom eingangs bereits erwähnten grundlegenden Forschungsinteresse, also der Quaestio, gelenkt: „Welchen Stellenwert hat die Sprache in Diskursen und Praktiken, die mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zusammenhängen?“ Die Quaestio wiederum geht auf die epistemologische Positionierung zurück, auf der meine Arbeit basiert. Die Forschungsfragen, welche die folgenden Kapitel leiten, hängen mit der Quaestio und der Positionierung zusammen. Sie beruhen auf der Vorstellung, dass mit der akademischen Mobilität einhergehende Ideologien auf dem Terrain der Sprache verhandelt werden, dass diese Ideologien sich in Diskursen niederschlagen und soziale wie auch sprachliche Praktiken der von der studentischen Mobilität tangierten Akteure beeinflussen.

      Aus diesem Interesse ergeben sich drei Leitfragen, die für die Datenerhebung wie auch für die Analysearbeit zentral sind und es ermöglichen, den Stellenwert von Sprachen im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität über Schweizer Sprachregionen hinweg empirisch zu untersuchen. So soll ein Beitrag zum Verständnis geleistet werden, wie Sprache und Mobilität in soziale und diskursive Praktiken im Kontext des schweizerischen Hochschulsystems hineinwirken, und sollen Kapitalerwerbsprozesse