Distinktion durch Sprache?. Martina Zimmermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Zimmermann
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300342
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unter Tessiner Studierenden zum „guten Ton“ bzw. zum Lebensstil gehört, den es unter Privilegierten zu wählen gilt. Mobilität kann unter gewissen Umständen eben auch zum Erwerb von symbolischem, ökonomischem und kulturellem Kapital oder aber räumlichem Kapital führen (Bourdieu 1983; Rérat & Lees 2011)7. Im Falle von Studierenden gehört dazu z.B. ein Diplom, das Zugang zum späteren Berufsleben verschaffen kann und dem dann ein gewisser ökonomischer Wert zugeschrieben wird. Nicht jeder Form des „On-the-move-Seins“ wird aber gleichermassen Wert oder Aussicht auf Kapital beigeordnet. Für die TessinerInnen scheint etwa das nahe gelegene Italien keine ernsthafte Mobilitätsoption zu sein, auch wenn ein dortiges Studium ebenfalls Mobilität implizieren würde. Der Wert der dort ausgestellten Diplome wird von Studierenden angezweifelt (vgl. Kapitel 5).

      Das „On-the-move-Sein“ der TessinerInnen muss zudem auf dem Hintergrund der europäischen und nationalen Sprachpolitik (vgl. Rindler-Schjerve & Vetter 2012) und der politisch-ökonomischen (vgl. 2.2.4.2) Bedingungen betrachtet werden. Der Erwerb von Sprachkompetenzen durch Mobilität während des Studiums wird im marktwirtschaftlich geprägten Zeitalter als äusserst wichtig erachtet (z.B. Murphy-Lejeune 2002; Yarymowich 2004). Studierende, welche mobil werden, bekommen die Chance, mehrsprachig zu werden, wozu freilich anzumerken ist, dass die Mehrsprachigkeit ihnen Mobilität erst gestattet (Lüdi et al. 1994; Takahashi 2013). So versuchen TessinerInnen während ihres Studiums Deutsch- oder Französischkenntnisse zu erwerben. Grundlage für ihre Mobilität bilden die während des Gymnasiums erworbenen Deutsch- oder Französischkompetenzen. Aber ähnlich wie die Mobilität sind auch Sprachen nicht gegen hierarchische Zuordnungen gefeit (vgl. Broeder & Extra 1998). Es werden demnach nur eine gewisse Mobilität und mit ihr verbundene Sprachkompetenzen als willkommene zusätzliche Qualifikation bzw. zusätzliches Kapital erachtet (vgl. Coffey 2011; Lan 2011). Im Kontext der Tessiner MaturandInnen sind dies die Mobilität in die Deutsch- bzw. Westschweiz und damit verbundene Deutsch- bzw. Französischkenntnisse.

      Die vorliegende Arbeit will v.a. bewusst machen, dass Mobilität diskursiv konstruiert wird, dass ihr eine Machtkomponente anhaftet und mit ihr Kapitalerwerbsprozesse verknüpft sind, die auf politisch-ökonomischen Bedingungen basieren. Sie geht Sprache und (Im-)Mobilität denn auch aus der Perspektive der kritischen Soziolinguistik an. So gelingt es, sich der Herausforderung der Mobilität zu stellen, nämlich „the dislocation of language and language events from the fixed position in time and space attributed to them by a more traditional linguistics and sociolinguistics“ (Blommaert 2010: 21) neu und angemessen zu begreifen. Regionen, z.B. dem Tessin oder der Deutschschweiz, durch die sich die Studierenden bewegen, fällt so eine neue Rolle zu. Pennycook (2012: 26) hält treffend fest: „Place or locality are not so much defined by physical aspects of context, by tradition or origins but by the flows of people, languages, cultures through the landscape.“

      Diese Ansicht impliziert, dass unsere Analysen räumlich und zeitlich nicht mehr „unbewegt“ sind, sondern unsere Überlegungen über Sprache an Fragen festgemacht werden, die sich mit Bewegung und Ort befassen. Erst mit solchen Fragen im Hinterkopf sind wir darauf vorbereitet, dass „languages turn out to be floating around in unexpected places“ (Heller 2007: 343).

      2.2.4.2 Politische Ökonomie

      Aus der Skizze der einstigen und heutigen Hochschullandschaft geht hervor, dass studentische Mobilität und mit ihr verbundene Destinationen sich je nach Machtapparat verändern. Ebenso sind es je nach Periode andere Sprachen, die es mittels der Mobilität zu erwerben gilt.

      Im spätmittelalterlichen Europa etwa ist es die Kirche, welche die Universitäten dominiert. Sie finanziert aus Pfründen und anderen Einkünften den Betrieb, diktiert die „doctrina sacra“ und den Gebrauch des Lateins, bestimmt den vom Klosterbetrieb übernommenen 45-Minuten-Rhythmus. Mit dieser kirchlich geprägten Vormachstellung zieht die Universität in ihren Anfängen angehende Kleriker aus dem gesamten christlichen Europa an.

      Auch in der gegenwärtigen Hochschullandschaft gibt es einen Machtapparat, der sich auf die Struktur der Universität auswirkt1. So sind es vorwiegend ökonomische Leitlinien, die den Betrieb und die inhaltliche Ausrichtung derselben prägen und im Zusammenhang mit der Wettbewerbsorientierung stehen, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor dominiert. Die Universität ist ein Ort, an dem – in Konkurrenz zu ähnlichen (aber nicht identischen) Orten – gewisse Bildungsgüter konsumiert/erworben werden können. So erhalten Tessiner Studierende dank ihrer Mobilität in der Deutsch- oder Westschweiz Zugang zu Bildung und zu Sprachen, welche den schweizerischen Markt beherrschen, und sie bekommen dadurch die Chance, später jenem Teil der Bevölkerung anzugehören, der sich, z.B. als Arbeitnehmende, in diesen Markt eingliedern kann.

      Der Fakt, dass sich der Stellenwert von Sprachen, damit verbundene Sprachideologien und Mobilitätsrichtungen im universitären Kontext seit dem Hochmittelalter in Europa immer wieder wandeln, muss auf dem Hintergrund politisch-ökonomischer Bedingungen betrachtet werden. Doch was ist unter politischer Ökonomie zu verstehen, und inwiefern bietet sich deren Konzept für diese Arbeit an? Die nächsten Abschnitte sollen Antwort auf diese Fragen geben.

      Der Begriff „politische Ökonomie“ bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen die Produktion und Verteilung von materiellen und kulturellen Gütern in unserer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. Diese Bedingungen hängen mit wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten, Marktteilnehmern (z.B. Grossunternehmen) und amtlichen Entscheidungsträgern (z.B. Kanton, Nation) zusammen. Die „politische Ökonomie“ wirkt sich auf Menschen, deren sozialen Status, deren kulturelle Praktiken, Wertvorstellungen und Überzeugungen aus. Sprachen und SprecherInnen und die Art und Weise, wie diesen Wert zu- bzw. abgesprochen wird, sind davon nicht ausgenommen (Bourdieu 1977; Gal 1989; Irvine 1989; Bauman & Briggs 2003; Philips 2005; Heller & Boutet 2006; Duchêne & Heller 2012; Duchêne, Moyer & Roberts 2013; Martin-Rojo 2013).

      Unter den zahlreichen AutorInnen, die sich mit der politischen Ökonomie befassen, findet sich auch Pierre Bourdieu (1977, 1982, 1983). Er beschreibt, inwiefern diese für den sprachlichen Gegenstand relevant ist und entwickelt die bereits erwähnte Idee des „sprachlichen Markts“. Sein Beitrag wird von anderen AutorInnen weiterentwickelt und ist für die vorliegende Arbeit zentral. Laut Bourdieu bewegen wir uns in einem Markt, in dem verschiedene Formen von Kapital zirkulieren, die unter gewissen Bedingungen gegeneinander ein-/austauschbar werden. So ist beispielweise symbolisches (kulturelles oder soziales) Kapital in materielles Kapital überführbar (Bourdieu 1977: 195). Wem (z.B. SprecherInnen) oder welcher Sache (z.B. Sprachen), wann (z.B. jetzt), wo (z.B. in der Schweiz) wie viel Wert (z.B. Geld oder symbolischer Wert) zukommt, wird von der politischen Ökonomie oder eben dem sprachlichen Markt bestimmt. Diese Wertzuschreibungen führen dazu, dass gewisse SprecherInnen und gewisse Sprachen als legitimer, wertvoller oder nützlicher betrachtet werden als andere. Das heisst, dass eine Interaktion nicht bloss ein verbaler Austausch zwischen einem Zuhörenden und einem Sprechenden, sondern auch ein Austausch ökonomischer Natur darstellt. Im Austausch manifestiert sich, wie es um die Machtbeziehung steht und wer wie viel Kapital hat, das den gegenwärtigen Marktanforderungen entspricht (Bourdieu 1991). Entsprechend diesem Verständnis von Sprachen und SprecherInnen sind die Unterschiede und Ungleichheiten in der politischen Ökonomie und in den daraus resultierenden ökonomischen und sozialen Bedingungen beschaffen.

      Bourdieu weist darauf hin, dass dem Bildungssystem in der Akzentuierung dieser Ungleichheiten eine wichtige Rolle zukomme (Bourdieu 1977; Erickson 2004; Bourdieu & Passeron 1971, 2006; Martin-Rojo 2010). Es favorisiere die von den Erziehungsbehörden für vorrangig erklärten Sprachen dadurch, dass diese (und keine anderen) unterrichtet werden, stütze somit die Behörden in ihrer Entscheidung und trage erheblich zur Legitimation gewisser Sprachen bei2. Die Macht, die Sprachen zugeschrieben wird, ist gemäss Bourdieu nicht in den Sprachen an und für sich enthalten, sondern reflektiert die Macht einer dominierenden Gruppe (z.B. der Regierung) (vgl. Gal 1989). Wie die historische Skizze zeigt, ist der Markt nicht für die Ewigkeit gegeben. Er verändert sich, wird von Menschen (Individuen und Gruppen) mit spezifischen Interessen und Ideologien produziert und geformt. Menschen verwenden die politisch-ökonomischen Strukturen und nutzen sie, um ihre Interessen zu wahren und in der Gesellschaftsordnung ihren Platz beizubehalten (vgl. Duchêne & Heller 2007).

      Bourdieus