Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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Ebner (2009), Österreichisches Wörterbuch (2012). Aber bereits in den Vollwörterbüchern (DUDEN Deutsches Universalwörterbuch 2015, Wahrig 2006) und in Wörterbüchern für Deutsch als Fremdsprache (z.B. Langenscheidts Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 2003) bekommt man Informationen zu nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen. Selbst die Aussprachevariation der Standardsprache ist dokumentiert – s. z.B. König (1989) und Krech et al. (2010). Die lexikographische Datenlage zu den regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen kann also als gut bezeichnet werden. Dennoch: Einzelne Studien weisen darauf hin, dass generell nicht gern in Wörterbüchern nachgeschlagen wird (Engelberg & Lemnitzer 2009: 86) – lieber nehme man ein grosses Mass an Unsicherheit bei der Textproduktion in Kauf, als dass man ein Wörterbuch zurate ziehe. Eine gewisse Wörterbuchabstinenz ist auch in anderen so genannten Sprachberufen beobachtbar. So wies Markhardt (2005) darauf hin, dass professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer Zweifelsfälle eher informell im Fachkollegium klären, als sie in Wörterbüchern nachzuschlagen. Inwiefern trifft dies auch für Lehrerinnen und Lehrer zu? De Cillia (2014: 17) zitiert eine Interviewerhebung des Klagenfurter Deutschdidaktikers Werner Wintersteiner, woraus hervorgehe, dass für die Beurteilung der standardsprachlichen Korrektheit letztendlich die individuellen Normvorstellungen der Lehrkräfte ausschlaggebend seien. Gerade die Varietätenfrage finde im Unterricht kaum Niederschlag. Empirische Untersuchungen zum Nachschlage-Verhalten von Lehrkräften zur Klärung von varietätenbedingten Zweifelsfällen liegen erst punktuell vor. So hat z.B. eine Befragung von Läubli (2006) von 15 Lehrpersonen ergeben, dass zwar der Rechtschreibduden neben einem Schülerwörterbuch regelmässig konsultiert wird, aber keine Varianten überprüft werden.

      Wie bereits erwähnt, gibt es eine Reihe von lexikographischen Werken, die Zweifelsfälle, die durch regionale und nationale Variation der Standardsprache entstehen können, zu klären helfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kodices selbst nicht immer konsistent sind. Dürscheid & Sutter (2014) zeigen auf, dass das Wörterbuch Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (Bickel & Landolt 2012), das Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und das Wörterbuch Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2011) Zweifelsfälle, die national und regional bedingt sind, teilweise unterschiedlich behandeln. Dies hänge einerseits damit zusammen, dass es keine klare Unterscheidung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varianten gibt. Dürscheid & Sutter (2014) monieren zudem, dass das Variantenwörterbuch die Kategorie „Grenzfall des Standards“ in 10 % der Einträge vergibt. Dies trage nicht zur Klärung bei und sei für den Benutzer unbefriedigend. In einem Wörterbuch zur standardsprachlichen Variation erhoffe man sich eindeutige Aussagen zum Status einer Variante. Wo das nicht möglich sei, solle man besser auf einen Eintrag verzichten. Meines Erachtens handelt es sich bei diesen 10 % nicht um einen hohen, sondern im Gegenteil um einen geringen Anteil an Varianten, deren standardsprachlicher Status als nicht eindeutig ausgewiesen ist. Und anders, als Dürscheid & Sutter (2014) dies sehen, erachte ich die Markierung „Grenzfall des Standards“ gerade als besonders hilfreich bei der Klärung von (in Kleins Begrifflichkeit) konditionierten Zweifelsfällen, also solchen, deren Standardsprachlichkeit je nach Verwendungszusammenhang unterschiedlich beurteilt wird. Gerade die Grenzfälle des Standards halte ich als Ausgangspunkt für die Sprachreflexion für besonders wichtig. Sowohl Lehrkräfte als auch Lernende müssen damit umgehen lernen – auch mit dem Umstand, dass Varianten ihren Status ändern können. Dürscheid & Sutter (2014) nennen dazu das Beispiel, dass die nicht-reflexive intransitive Verwendung von ändern bspw. in Das Wetter ändert erst seit 2013 im Rechtschreib-Duden figuriert, und selbst die Mitglieder des Schweizerischen Dudenausschusses seien sich über die Standardsprachlichkeit dieser Konstruktion nicht durchwegs einig. Widersprüche in den Kodices liegen in der Natur der Dynamik von Varietätensystemen. Widersprüche in den Kodices sollen keine Entschuldigung sein, Wörterbücher nicht zu verwenden.

      Bei der Vermittlung lexikographischer Kompetenzen sind die sprachwissenschaftliche Grundausbildung und die Fachdidaktik gleichermassen gefordert. Es geht nicht nur darum, dass Lehrkräfte Wörterbücher benutzen, sondern auch darum, das informative Potenzial von Wörterbüchern zu vermitteln und zu üben, wie man mit der Makro- und Mikrostruktur von Wörterbüchern umgeht. Gemäss Engelberg & Lemnitzer (2009) werden in Wörterbüchern generell vor allem die Rechtschreibung verifiziert sowie Bedeutungserklärungen nachgeschlagen. Andere Informationsangebote von Wörterbüchern werden ungleich seltener genutzt bzw. es wird nicht der für die spezifische Information vorgesehene lexikographische Slot verwendet. So würden Syntaxinformationen aus den Beispielen extrahiert anstatt aus dem grammatischen Apparat des Wörterbuchartikels (Engelberg & Lemnitzer 2009: 88). Die Umtexte von Wörterbüchern, welche explizite Erklärungen zur Lesart der Artikel liefern würden, werden selten zur Kenntnis genommen. Insgesamt konstatieren Engelberg & Lemnitzer (2009: 88–90) einen generellen Mangel in der Nachschlagkompetenz von Lernenden. Insbesondere in der muttersprachlichen Didaktik des Deutschen werde die Wörterbucharbeit nur unzureichend (sowie einseitig auf die Rechtschreibung fokussiert) berücksichtigt. Das Informationsangebot zur Angemessenheit der Lexik und Semantik und zu weiteren Sprachgebrauchsangaben wird offenbar zu wenig genutzt. Von zentraler Wichtigkeit im Zusammenhang mit regionalen und nationalen Zweifelsfällen scheint mir die Vermittlung des Stellenwerts arealer Markierungen zu sein. Möglicherweise kommt die Variantenskepsis dadurch zustande, dass die Markierungen schweiz. oder österr. nicht als Angabe zur Herkunftsregion einer standardsprachlichen Variante gelesen wird, sondern als Warnhinweis bei der Verwendung von Standardsprache – neben einem weiteren, weit verbreiteten Missverständnis, wonach ein Helvetismus eine Dialektvariante sei, die bei der Redaktion standardsprachlicher Texte eliminiert werden müsse.10 Dabei bräuchte es gerade für die Differenzierung zwischen Dialektalismen und standardsprachlichen Varianten – wahrscheinlich die grösste Herausforderung im Umgang mit variationsbedingten Zweifelsfällen – linguistisches Wissen und lexikographische Informiertheit. Die Variantentoleranz ist keineswegs ein Freipass für Dialektinterferenzen. Zum linguistisch-lexikographischen Wissen gehört, dass es keinen Grund gibt, das Poulet durch das Hähnchen oder das Trottoir durch den Bürgersteig zu ersetzen, aber dass gewunken als Partizip für winken standardsprachlich nicht korrekt ist, ebenso wie die einten und die andern anstatt die einen und die andern, anderst statt anders oder der ach-Laut anstelle des ich-Lauts bei der Aussprache, oder der ich-Laut anstelle des ach-Lauts.

      Es gilt, zwischen dem Zweifeln selbst und den Zweifelsfällen zu unterscheiden (Dürscheid 2011: 155). Das didaktisch Interessante scheint der Prozess des Zweifelns zu sein, das Abwägen von Korrektheit und Angemessenheit. Antos (2003: 43) (vgl. Dürscheid 2011: 161) bringt es so auf den Punkt: „Dumme, Ignoranten, Stolze können nicht zweifeln. Ihnen fehlt gerade jenes Wissen, das sie benötigten, um Lücken, Unklarheiten oder Grenzen überhaupt erst erkennen zu können.“ Bleibt zu hoffen, dass die digitalen Möglichkeiten, lexikographische und grammatikographische Mittel zu nutzen, sowie korpusgestützte Analysen von Zweifelsfällen (vgl. dazu Konopka 2011) vermehrt Einzug in die Lehrerausbildung halten. Nicht nur, um Korrektheit und Angemessenheit von Varianten gezielt zu überprüfen, sondern auch um damit umgehen zu lernen, dass Varianten ihren Status ändern können und ihre Angemessenheit an einen spezifischen Verwendungszusammenhang gebunden sein kann, aber nicht muss.11

      6. Literatur

      Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter.

      Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser, Lorenz Hofer, Birte Kellermeier-Rehbein, Heinrich Löffler, Doris Mangott, Hans Moser, Robert Schläpfer†, Michael Schlossmacher, Regula Schmidlin & Günter Vallaster (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: de Gruyter.

      Ammon, Ulrich, Hans Bickel & Alexandra Lenz (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Berlin,