Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
Скачать книгу
pluriarealen Ansatzes ein: Er schlägt vielmehr ein ‚regio-plurizentrisches‘ Modell vor und betont den Aspekt, dass gerade historische Kontinuitäten in Sprache und Kultur einflussreicher seien als politische Konstrukte, wobei bei dieser historisch-kulturellen Raumkonzeption jedoch durchaus Kernräume und Zentren auszumachen seien (vgl. Reiffenstein 2001: 87–88). Alle oben genannten Kritikpunkte wurden in der Folge immer wieder von Vertretern pluriarealer Modelle aufgegriffen, darunter Eichinger (2005a, 2005b) und Elspaß (2005). Letzterer deutet z.B. an, dass der politisch statt empirisch motivierte, theoretische Ausschluss eines möglichen DDR-Standarddeutsch dem tatsächlichen Sprachgebrauch nicht notwendigerweise folgen muss (vgl. Elspaß 2005: 302–303).

      Ein aus heutiger Sicht theoretischer Vorteil des pluriarealen Modells ist es dagegen, über Aussehen und Stärke der Areale weniger strikte Vorannahmen zu tätigen bzw. generell schlicht mehr Möglichkeiten neben der derzeit gültigen nationalen Gliederung in Betracht zu ziehen. Nationale areale Varianten können im pluriarealen Modell immer noch ihren Platz finden, sie sollen ja gleichberechtigt neben arealen Varianten des Standarddeutschen bestehen statt durch diese ersetzt werden.2 Bei Farø (2005) sowie in der jüngeren Diskussion (z.B. Dürscheid et al. 2015) wird ein weiteres Argument vorgebracht: Minderheitsvarianten sollten für eine möglichst exhaustive Beschreibung der Variabilität ebenso für die Konstitution von Varietäten berücksichtigt werden wie Mehrheitsvarianten, vgl. Abb. 1 (adaptiert nach Scherr & Niehaus 2013: 78).

      Abb. 1: relative Varianz, adaptiert nach Scherr & Niehaus (2013: 78)

      Modellhaft soll hier gezeigt werden, dass sich das Vorkommen einer Variante x und einer Variante y keineswegs auf ein Areal beschränken muss, wie dies hier nur für Variante z gilt. Relative Varianten, die mal Mehrheits- mal Minderheitsvariante sein können (z.B. x in Areal A mit 70 % gegenüber nur 30 % in Areal B), können neben absoluten bestehen. Methodisch soll deswegen die im plurizentrischen Ansatz oft fehlende oder mangelnde Betrachtung der relativen Varianz überwunden werden (vgl. z.B. Dürscheid et al. 2015: 218–219). Neu ist also, dass auch geringere Anteile als 50 % an einer Variable zur Charakterisierung eines Areals berücksichtigt werden können, d.h. auch Minderheitsvarianten eines bestimmten Areals ausdrücklich als dort in Verwendung stehend ausgewiesen werden.

      Wie eine Methodik nach dem pluriarealen Modell dabei konkret aussehen kann, werde ich im nächsten Punkt ausführen, und zwar an Beispielen aus dem Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘.

      3. Empirische Zugänge zur Pluriarealität – das Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘

      3.1. Gebrauchsstandard als Untersuchungsgrundlage

      Die Untersuchungsbasis der ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ – d.h. das, was man als Standarddeutsch ansehen kann – ist der sogenannte „Gebrauchsstandard“ (Ammon 1995: 88, 94), der auf standardsprachliche Kommunikation abzielende (aber [noch] nicht in Nachschlagewerken kodifizierte) Formen meint. Diese Formen sind pro Areal funktional äquivalent (vgl. Scherr & Niehaus 2013: 78–79), d.h. areal unterschiedliche Varianten haben die gleiche Funktion, der Kommunikation auf Standarddeutsch zu dienen, und befinden sich deshalb alle innerhalb des Standarddeutschen (das gilt nicht nur arealübergreifend, sondern auch für Mehrheits- und Minderheitsvarianten innerhalb eines Areals). Genau genommen gibt es also nicht den Gebrauchsstandard, sondern mehrere Gebrauchsstandards, wobei nach pluriarealer Vorstellung die Anzahl dieser nicht von vornherein fest ist (im Gegensatz zum nach Nationen einteilenden plurizentrischen Ansatz). Diese Definition von Standarddeutsch geht vom Sprecher und Schreiber, nicht vom Rezipienten aus.

      Die Vorgehensweise des Projekts ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘, die ich im Folgenden näher erläutere, beschränkt sich auf die geschriebenen Gebrauchsstandards des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums. Ich gehe hier noch weiter auf die Eingrenzung geschriebener Gebrauchsstandards ein, indem ich die Quellenauswahl begründe. Die areale Zusammensetzung bzw. Sektoralisierung der Quellen beschreibe ich dann im folgenden Schritt, im Kapitel über das Korpusdesign.

      Es besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass man das Deutsch, das in Zeitungen verwendet wird, als Standarddeutsch klassifizieren kann. Eisenberg (2007: 217) will dies noch auf überregionale Zeitungen beschränkt wissen. Diese Beschränkung scheint nicht ganz nachvollziehbar, wenn man der Definition des Gebrauchsstandards folgt, denn Eisenbergs Quellenauswahl suggeriert, der Sportteil der Frankfurter Allgemeinen wäre standarddeutsch, der Politikteil einer Regionalzeitung hingegen nicht unbedingt (vgl. Dürscheid et al. 2011: 126). Auch andere Gründe sprechen gegen die Beschränkung auf überregionale Zeitungen: So scheint es durchaus zulässig, nicht nur die relativ kleine schreibende Elite der Journalisten, sondern auch die große Menge regionaler Journalisten in den Blickpunkt einer Analyse zu rücken. Dass diese in Zeiten, da in der öffentlichen Kommunikation in Ländern mit Deutsch als Amtssprache kaum eine andere Varietät als Standarddeutsch akzeptiert wird, tatsächlich nicht standarddeutsch schrieben, erscheint äußerst unrealistisch (und entspricht außerdem wohl kaum ihren Intentionen).

      Hinzu kommt noch ein weiterer Vorteil bei der Analyse von Regionalzeitungen: eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, überhaupt auf areale Varianten der deutschen Standardsprache zu stoßen. Denn, so meint etwa Hugo Moser, diese fänden sich „vor allem im Deutsch der Zeitungen, namentlich in den regionalen, viel weniger in den überregionalen und auch für Leser anderer Gebiete bestimmten Blättern wie im wissenschaftlichen und schönen Schrifttum“ (Moser 1982: 328).1 Gerade also, wenn man Antworten auf die Frage nach der Arealität des Standarddeutschen sucht, sollte man sich auf die Regionalzeitungen konzentrieren – auch, um etwa Entscheidungen zugunsten eines arealen Modells (Plurizentrik vs. Pluriarealität) auf empirischer statt politischer Basis zu fällen.

      3.2. Korpusdesign und korpuslinguistische Methodik

      Die ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ hat zum Ziel, eine Grammatik in Form eines stichwort-alphabetischen Nachschlagewerks vorzulegen, das für Laien wie für Forscher gleichermaßen verständlich und zugänglich ist. In einem ersten Schritt wird dazu zunächst online ein Wiki erstellt, das derzeit mit Lemmaeinträgen gefüllt wird1 und bisher in geschlossener Form betrieben wird, schließlich aber öffentlich einsehbar sein soll. Eine Printversion ist ebenfalls angestrebt.

      Abb. 2: Screenshot des ‚Varianten-Wiki‘

      Die ‚Variantengrammatik‘ bezieht ihre Daten aus einem kompilierten Großkorpus, das Crawls aus 69 Online-Regionalzeitungen (ca. 600 Mio. Textwörter, 1699115 einzelne Zeitungsartikel) der Zeit 2012–2013 umfasst. Dabei wurden die Regionalzeitungen nach einem Arealschlüssel gesammelt, der in Tab. 1 wiedergegeben ist.

      Diese Einteilung orientiert sich – mit einigen kleineren Abweichungen – am VWB (vgl. Ammon et al. 2004: XVIII-XIX). Allerdings ist die Einteilung im ‚Variantengrammatik‘-Projekt datengesteuert und somit dynamisch handzuhaben, sowohl in ihrer grundsätzlichen Gliederung als auch im Einzelfall: So wird etwa die Schweiz nicht weiter in Kantone oder dialektale Kleinräume untergliedert. Eine dialektale Gliederung wurde zunächst im Korpusdesign des Projekts verankert, dann jedoch aufgegeben, weil eine solche Untergliederung nicht statistisch abgesichert nachgewiesen werden konnte.

ArealbezeichnungRegionen
Deutschland NordwestSchleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen
Deutschland NordostMecklenburg-Vorpommern, Brandenburg (ohne Region Niederlausitz), Berlin, Region Altmark (Sachsen-Anhalt), Region Magdeburger Börde (Sachsen-Anhalt), Landkreis Jerichower Land (Sachsen-Anhalt)
Deutschland MittelwestNordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (ohne Region Rheinpfalz), Hessen
Deutschland MittelostRegion Harz (Sachsen-Anhalt), Region Halle (Saale) [Sachsen-Anhalt], Thüringen, Sachsen, Region Niederlausitz (Brandenburg)
Deutschland SüdwestRheinpfalz (Rheinland-Pfalz), Saarland, Baden-Württemberg
Deutschland SüdostBayern
Österreich

e-mail: [email protected]