Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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Sprecher (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b…) in Zweifel geraten (b.) können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) (c.) korrekt ist […] (Klein 2003: 2).

      Mit (a.), (b.) und (c.) spezifiziert Klein drei Bedingungen für Zweifelsfälle: dass es sich (a.) um kompetente Sprecher und nicht etwa um Lernende handelt, dass (b.) die Fähigkeit zu zweifeln ein metasprachliches Bewusstsein voraussetzt und dass (c.) die Existenz von Zweifelsfällen auf die Standardsprache beschränkt ist. Als Beispiele nennt Klein: Friede oder Frieden?, Kriegführung oder Kriegsführung?, des Kindes oder des Kinds? Klein fokussiert auf Zweifelsfälle, deren Varianten formseitig teilidentisch sind. Dies ist allerdings für das sprachliche Zweifeln keine Bedingung.

      Das zweifelnde Subjekt ist also der kompetente Sprecher. Varianten, die aufgrund mangelnden Wissens von Lernenden erzeugt werden, gelten in dieser Systematik folglich nicht als Zweifelsfälle. Klein (2003) unterscheidet deren drei Typen: Freie Variation: a und b sind ohne Restriktionen gebräuchlich, z.B. gern/gerne. Graduelle Variation: a ist gebräuchlicher als b, z.B. magrer/magerer. Nullvariation: a ist gebräuchlich und richtig, b ist ungebräuchlich und falsch, z.B. Felsblöcke/Felsblocks. Letzterer Typ, die Nullvariation, scheint zunächst mit der Kategorie Fehler zusammenzufallen. Den Unterschied zwischen Fehler und Zweifelsfall sieht Klein (2003: 8) darin, dass ein Fehler nachträglich als solcher erkannt und beurteilt wird. Beim Zweifelsfall hingegen bleibe auch rückblickend der Zweifel, welche der Formen, die zur Wahl stehen, die adäquate sei, bestehen.

      Weiter unterteilt Klein die Zweifelsfälle in konditionierte und unkonditionierte. Diese unterscheiden sich darin, dass die Varianten der konditionierten Zweifelsfälle zumindest teilweise in unterschiedlichen Kontexten verankert sind (Klein 2009: 150). Demnach lassen sich Voraussetzungen für die jeweilige Variante bestimmen, z.B. in Bezug auf ihre regionale oder nationale Geltung, die kommunikative Praktik (Fiehler 2000), in der sie geäussert wird, in Bezug auf die individuelle Kommunikationssituation oder die mediale Übertragungsform. Unkonditionierte Zweifelsfälle hingegen können nicht an einen Kontext oder an eine Bedingung gebunden werden. Ihr Gebrauch schwankt unabhängig vom Gebrauchskontext. Sie sind für Klein „Zweifelsfälle im engeren Sinn“ (Klein 2009: 151). In dieser Dichotomie figurieren die Nullvarianten offensichtlich nicht mehr.

      Versucht man nun, Varianten des Standarddeutschen nach Kleins Kategorien einzuteilen, zeigt sich, dass es freie Variation gibt, wenn in Österreich sowohl Vorrang als auch Vorfahrt für das ‚Recht, eine Kreuzung oder Einmündung zeitlich vor einem anderen herankommenden Fahrzeug zu passieren‘ verwendet wird; graduelle Variation, wenn die Pluralform Balkone im deutschen Sprachraum insgesamt gebräuchlicher ist als Balkons; konditionierte Variation, wenn in bestimmten Gebieten des Deutschen Sprachraums das E-Mail häufiger vorkommt als die E-Mail (Näheres dazu s. Niehaus Kap. 4.2. in diesem Band) oder wenn die Bevorzugung einer Variante von einem bestimmten Verwendungszusammenhang abhängt. Dies ist beispielsweise bei der lexikalischen ost-österreichischen Variante Obers für ‚oben schwimmender, fetthaltiger Teil der Milch; flüssiger Süßrahm‘ der Fall, für die in Rezepten und in Fremdenverkehrsgebieten auch häufig Sahne gebraucht wird (s. Ammon et al. 2016: 612f.). In Bezug auf die kognitive Verfügbarkeit von Variantenreihen gelingt die Übertragung von Kleins Zweifelsfallmodell, wonach kompetente Sprecher (plötzlich) über verschiedene sprachliche Möglichkeiten nachdenken, nicht in allen Fällen. Auch wenn z.B. für die Bedeutung ‚Recht, eine Kreuzung oder Einmündung zeitlich vor einem anderen herankommenden Fahrzeug zu passieren‘ die Sprecherinnen und Sprecher tatsächlich mehrere Varianten in ihrem mentalen Lexikon zur Verfügung haben dürften, trifft dies nicht bei allen Variantenreihen zu. Um der Dynamik der Variation auch innerhalb der Standardsprache gerecht zu werden, gilt es, Kleins Typen von Zweifelsfällen jeweils mit der spezifischen Sprecherperspektive in Verbindungen zu bringen und zwischen der Eigen- und Fremdperspektive zu differenzieren. Ein Modell, das die Perspektivierung nicht nur im Hinblick auf unterschiedlich konditionierte Textprodukte, sondern auch im Hinblick auf das zweifelnde Subjekt berücksichtigt, ist die Konzeption der Plurizentrik bzw. Pluriarealität von Standardsprachen.

      3. Zur linguistischen Konzeptualisierung standardsprachlicher Variation

      Das Modell der Plurizentrik von Standardsprachen trägt dem Umstand Rechnung, dass Standardsprachen überall dort, wo sie National- oder Amtssprachen sind, aufgrund politisch-historischer Eigenentwicklung der betreffenden Gebiete Besonderheiten aufweisen. Dass das Nebeneinander (und nicht hierarchische Übereinander) von Standardvarietäten nicht zum kommunikativen Chaos führt, zeigt uns die Anglophonie (Trudgill & Hannah 2008). Britizismen gelten nicht als korrektere Varianten als Varianten anderer englischer Varietäten. Umgekehrt halten bspw. Amerikaner Britizismen nicht für weniger korrekt als die Varianten des General American Standard, auf den man sich global zunehmend bezieht und der (in Bezug auf den kommunikativen Umsatz weltweit) deshalb als dominante Varietät gelten dürfte. Das Englische kann auch auf eine lange plurizentrische lexikographische Tradition zurückblicken – begünstigt durch seine globale Verbreitung und die geographische Abgrenzung der einzelnen Standardvarietäten. Auch die Varietäten der südlichen Hemisphäre sind Teile des englischen Standardvarietätenkonglomerats. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit der Plurizentrik des Deutschen?

      Die lexikalischen und semantischen nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen sind mittlerweile gut dokumentiert und lexikographiert (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016.) Die Variation der Standardsprache wird nicht durch die Landesgrenzen allein strukturiert, sondern ist auch regional bedingt (vgl. dazu sowie zur theoretischen Debatte zur Plurizentrik und Pluriarealität des Deutschen Niehaus in diesem Band). Quantitativ von geringerer Bedeutung als lexikalische und semantische Varianten sind grammatische Formen, deren systematische Erforschung erst in jüngster Zeit eingesetzt hat. Allerdings ist auch dieser Bereich nicht zu unterschätzen, wie die aktuellen Ergebnisse des Projekts Variantengrammatik des Standarddeutschen zeigen (Dürscheid & Elspaß 2015). Nachfolgend werden einige Beispiele solcher grammatischen Formen genannt, die Anlass zum Zweifel geben könnten, wo jedoch mehrere Varianten als korrekte Standardsprache gelten. Ich stütze mich bei den Beispielen auf Götz (1995), Bickel & Landolt (2012), Elspaß, Engel & Niehaus (2013), Dürscheid, Elspaß & Ziegler (2011), Dürscheid & Sutter (2014), aber auch auf Material des Variantenwörterbuchs (Ammon et al. 2004, 2016). Um der Anschaulichkeit willen werden die genannten Fälle im Folgenden gleich in Sprechakten des Zweifelns formuliert: Wo sagt man bin gestanden und wo habe gestanden? Darf man auch in einem formellen Text ich bin am Arbeiten schreiben, wenn man meint, dass man gerade dabei ist zu arbeiten? Was ist häufiger: Bestandesaufnahme oder Bestandsaufnahme, Mittelklass- oder Mittelklassehotel? Ist die artikellose Konstruktion bei Anfang oder Ende plus Zeitangabe (Ende Jahr, Anfang Februar) korrekt, inkorrekt oder salopp? Heisst es gewoben oder gewebt, gespiesen oder gespeist? Fragt man bei jemandem an oder jemanden an? Nimmt man sich jemandem an oder jemandes an? Mit welchen Genera können diese Wörter vorkommen: Salami, Achtel, Radio, Spray, Kamin? Welche Pluralformen haben Park und Bogen? Heisst das Wetter ändert etwas anderes als das Wetter ändert sich? Bereits sind die Professuren besetzt – ist an dieser Satzstellung etwas falsch? Vergleichbar selten, aber markant und lexikographisch bzw. grammatikographisch schwierig darstellbar sind pragmatische Unterschiede, also Unterschiede im Sprachgebrauch in bestimmten Situationen. Was sagt man nach einer kurzen Unterbrechung eines Telefongesprächs: Da bin ich wieder? Sind Sie noch da? Ebenfalls auf der Ebene der Sprachpragmatik anzusiedeln sind textuelle Unterschiede. In der geschäftlichen Brief- und Mailkorrespondenz zum Beispiel setzt man in der Deutschschweiz gewöhnlich nach der Anrede kein Komma und beginnt die erste Zeile der Nachricht mit Grossschreibung.

      Rechtfertigen es nun solche Beispiele, von der Plurizentrik des Deutschen zu sprechen? Dazu hat es in der Linguistik einige Diskussionen gegeben. Einwände gegenüber dem plurizentrischen Konzept der deutschen Standardsprache können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Genannt sei als erstes die quantitative Argumentation. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der plurizentrischen Variation um ein paar hundert lexikalische Besonderheiten, die nicht genügen, um von einer eigenen Varietät sprechen zu können –