Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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dass regionale und nationale Varianten trotz ihrer Belegbarkeit in der Mediensprache und trotz ihrer Aufnahme in die einschlägigen Kodices in den Augen der Sprecherinnen und Sprecher Zweifelsfälle sind, wenn sie einzeln und in eingeschränktem textuellen Kontext abgefragt werden, zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit, wie sie die Kolleginnen und Kollegen aus Österreich bezogen auf die österreichische Standardvarietät immer wieder erwähnen (Wyss in diesem Band spricht vom „schielenden Blick auf die eigene Sprache“). Im elizitierten Zweifelsfall, in dem Varianten zur Auswahl gegeben werden, greift man offenbar auf ein Standardsprachenkonzept zurück, das auf die National- und Einheitssprachenideologie des 19. und 20. Jahrhunderts verweist (vgl. dazu Elspaß 2005). Warum tut man das? Die Soziolinguistik hat es vor langer Zeit gezeigt, und auch die Laienlinguistik oder Folk-Linguistik weist es nach: Spracheinstellungen beeinflussen das sprachliche Handeln massgeblich. Sie tun dies, weil sich Sprecherinnen und Sprecher über den Sprachgebrauch sozial nach verschiedenen Parametern gegenseitig bewerten. Man schliesst vom Sprachgebrauch auf persönliche und soziale Eigenschaften. Indem wir also aus der Fülle der stilistischen, fachsprachlichen oder auch regionalen Varietäten, die uns zur Verfügung stehen, auswählen, bestärken oder verhindern wir Bewertungen. Sprachbiographisch gesehen werden wir ja bei weitem nicht nur in Lern- und Lehrkontexten für die Art und Weise, wie wir uns sprachlich ausdrücken, bewertet; es ist ein soziolinguistischer Automatismus, den wir selber dauernd erfahren und den wir selber dauernd praktizieren. Dies könnte auch die Variantenskepsis beim schriftlichen Sprachgebrauch, welcher bei den in diesem Kapitel referierten Erhebungen mit ihrem metasprachlichen Fokus den Rahmen bildete, erklären. In der Meinung, gute Standardsprachkompetenz mit variantenfreien Texten nachweisen zu müssen, nimmt man bei der elizitierten Bewertung wenn immer möglich von Varianten Abstand – auch wenn es sich dabei aus linguistischer Sicht nicht um (gefürchtete) Dialektinterferenzen handelt. Der Widerspruch aber zum regelmässigen Vorkommen von Varianten1 in Textsorten, die durchaus Vorbildcharakter haben, bleibt.

      5. Standardsprachliche Variation im Kräftefeld der Norminstanzen

      Wie die in Kap. 3 erwähnte Internetbefragung von über 900 Gewährspersonen zeigt, ist das in der Variationslinguistik und Lexikographie gut etablierte Konzept der Plurizentrik, das auf einer soliden empirischen Basis fusst (vgl. z.B. Schmidlin 2011: 144–177), in den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher kaum vorhanden (vgl. Schmidlin 2011: 179–281). Insbesondere den Varianten des südlichen deutschen Sprachgebiets wird der standardsprachliche Status nicht zugetraut, selbst wenn ebendiese Varianten in Qualitätszeitungen belegt werden können und in den Kodices als standardsprachlich ausgewiesen sind.

      Auch die Art und Weise, wie Lehrpersonen Sprachnormen vermitteln, wird von ihren eigenen Einstellungen gegenüber der Sprachvariation und ihrem theoretischen Konzept der Standardsprache geprägt. Lehrpersonen bilden einen Teil des Kräftefeldes, welches hinter der Standardisierung und Normierung von Sprachen steht: Sie werden als Normautoritäten wahrgenommen, die neben Lexikographinnen und Lexikographen, Modellsprechern und -schreiberinnen sowie Sprachexpertinnen und -experten das Kräftefeld der Sprachnormierung bilden (vgl. Ammon 1995: 80), auch wenn sie sich dieser Rolle möglicherweise nicht immer bewusst sind. Über die Gewichtung dieser einzelnen Akteure in Ammons Modell kann man diskutieren; unabhängig davon sind Normen nichts anderes als das Produkt sozialer Prozesse, in denen bestimmte sprachliche Phänomene einen normativen Status bekommen oder dabei sind, diesen zu bekommen, andere nicht oder noch nicht (vgl. Auer 2014). Normen sind nichts mehr als dies, aber auch nichts weniger.

      Wird jedoch verinnerlicht, in einer Sprachregion zu leben, wo nicht richtig Hochdeutsch gesprochen (oder sogar geschrieben) wird, kann sich dies negativ auf das Selbstbild in Bezug auf die standardsprachliche Kompetenz auswirken – zum Selbstbild der Standardsprachkompetenz bei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vgl. z.B. Schläpfer, Gutzwiller & Schmid (1991), Hägi & Scharloth (2005), Schmidlin (2011: 231f) sowie Studler (2013).1 Um dem negativen Selbstbild in Bezug auf die Standardsprachlichkeit entgegenzuarbeiten, sollen sprachliche Zweifelsfälle nicht als Kristallisationspunkt der eigenen vermuteten standardsprachlichen Defizite verstärkt werden – „weil ich in der Standardsprache unsicher bin, weiss ich nie, ob man Bahnhofbuffet oder Bahnhofsbuffet schreibt“ –, sondern als Zeichen der Dynamik des Sprachsystems betrachtet werden. Die innere Mehrsprachigkeit (de Cillia 2014) soll nicht in sprachliche Selbstzweifel münden („ich spreche verschiedene Varietäten des Deutschen, ich mische sie, ich fühle mich unsicher“), sondern als Ausgangspunkt für eine Form des Nachdenkens über Sprache dienen, das über die Dichotomie von korrekter vs. nicht korrekter Standardsprache hinausgeht (vgl. Rastner 1997, de Cillia 2014: 16) und vor der vielschichtigen Frage der situativen2, textuellen3 und inhaltlichen Angemessenheit4 bestimmter Varianten nicht zurückschreckt.5

      Man könnte jetzt den Standpunkt vertreten, dass bereits die nicht regional und national bedingten Zweifelsfälle (vgl. den „Zweifelsfälle-Duden“, DUDEN 2011) genug sprachdidaktische Arbeit verursachen, und dass man den schulischen Unterricht mit der Kategorie der Zweifelsfälle, die durch die plurizentrische Sprachvariation entstehen, nicht zusätzlich belasten möchte. Tatsächlich ist gemäss Dürscheid & Sutter (2014) der Anteil der Zweifelsfälle im Zweifelsfälle-Duden, die ganz explizit auf regionale und nationale Varianten zurückgeführt werden können, gering: Nur 348 Einträge enthalten einen expliziten Verweis auf ein Geltungsareal (nordd. 29, südd. 63, deutschl. 10, schweiz. 97, österr. 149).6 Regional und national bedingte Zweifelsfälle nun aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl Types zu vernachlässigen, halte ich nicht für angemessen, da die Varianten als Tokens – z.B. bin gestanden und habe gestanden – durchaus häufig sind. Zudem sind im Korpus, das dem Zweifelsfälle-Duden zugrunde liegt, vor allem die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“, „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ massgeblich. Dagegen wurden die überregionale Presse Österreichs und der Schweiz nur in sehr geringem Umfang berücksichtigt. Das Wörterbuch der Zweifelsfälle, von dem man ja annehmen könnte, es sei für alle Zweifelsfälle des Deutschen das einschlägige Referenzwerk, scheint in Bezug auf die regionale und nationale Variation des Standarddeutschen also nicht umfassend genug zu sein. Die Situation wird jedoch dadurch entschärft, dass man sich über die Standardsprachlichkeit von sehr vielen Varianten bereits in anderen Wörterbüchern ein Bild machen kann – oder könnte, wenn man wollte.

      Es gibt verschiedene Studien, die nachweisen, dass Lehrkräfte in ihren Korrekturen sprachliche Formen und Ausdrucksweisen anstreichen, die von den Kodices eigentlich zugelassen werden (vgl. Davies 2000 und Davies in diesem Band), von den Lehrkräften dennoch mehrheitlich als falsch angestrichen werden – im Sinne von Klein 2003 also wie eine Nullvariante behandelt wird. Henggeler (2008) zeigte ebenfalls auf, dass einige Konstruktionen von Lehrerinnen und Lehramtsanwärtern als falsch angestrichen werden, obwohl die Kodizes die Formen ausdrücklich akzeptieren, wie z.B. der doppelte Akkusativ neben der ebenfalls standardsprachlich anerkannten Dativ-Akkusativ-Konstruktion (Dieses Abenteuer kostete mich /mir fast das Leben). Ferner sind Korrekturen von Lehrkräften heterogen und zuweilen widersprüchlich. Häcker (2009) (vgl. Dürscheid 2011: 163) konnte grosse Unterschiede in der Korrektur von Abiturarbeiten nachweisen. Die Fragilität des Fehlerbegriffs und die Varianz der Fehlerwahrnehmung und Fehlerkorrektur auch bei professionell mit Sprache umgehenden Personen zeigt eindrücklich Henning (2012) (vgl. Schneider 2013: 30).

      An dieser Stelle fragt man sich vielleicht, wie es zu diesen Divergenzen und teilweise ungerechtfertigten Korrekturen kommen kann, die doch durch den Blick in einschlägige Wörterbücher und Grammatiken hätten vermieden werden können. Es geht mir hier nicht etwa darum, Wörterbücher gegen die sprachliche Intuition der Lehrerinnen und Lehrer in Stellung zu bringen, sondern vielmehr um ein Plädoyer für die Differenzierung zwischen statuierten, subsistenten und individuell vermuteten Normen. Die vielfältigen lexikographischen und korpuslinguistischen Mittel, die aus variationslinguistischer Forschung hervorgegangen sind, können dabei hilfreich sein.

      Wie gut ist der Griff zum Wörterbuch oder zur Grammatik im Alltag von Lehrpersonen verankert? Wie bekannt sind die mittlerweile gut ausgebauten lexikographischen elektronischen Portale oder auch, für die explizite Thematisierung von Zweifelsfällen auf höheren Schulstufen, die durchsuchbaren Korpora wie DWDS7, OWID8 und COSMAS9? Auch zur im vorliegenden Aufsatz diskutierten