Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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und letztendlich Untertan des Kaisers war, und nicht weil man Deutsch als Muttersprache hatte. Allerdings war, wie Abb. 1 zeigt, Deutsch die dominante Sprache innerhalb dieses Territoriums. Dann (1996: 45) behauptet zwar:

      Aufgrund seines universalen Charakters und seiner territorialen Dimension konnte dieses Reich nicht zum Nationalstaat eines einzigen Volkes werden; seine politischen Grenzen deckten sich fast nirgendwo mit den ethnischen Siedlungsgrenzen seiner Bevölkerung.

      Abb. 1: Reichsgrenze und Sprachgrenze1

      Bei näherem Hinsehen ist diese Ansicht aber keineswegs stichhaltig. Erstens gibt es kaum einen heutigen europäischen Nationalstaat, dessen politische Grenzen mit sprachlichen übereinstimmen und der somit ethnisch einheitlich wäre. Aus Abb. 1 lässt sich klar erkennen, dass das „Alte Reich“ in dieser Hinsicht viel einheitlicher war als das Deutsche Reich von 1871, denn es fanden sich verhältnismäßig wenige Deutschsprachige außerhalb seiner Grenzen – wir haben es vorwiegend mit den relativ neulich vom Reich abgespalteten Gebiete des Elsass und der Schweiz, sowie Gebieten, die nie zum Reich gehörten, wie Ostpreußen und den Sprachinseln im Osten zu tun – und innerhalb des Reichs waren verhältnismäßig wenige Nicht-Deutsche – vor allem in den südlichen Niederlanden, in Böhmen und Mähren, im Tirol und im heutigen Slowenien. In Preußen und dem Habsburger Reich waren natürlich sehr viele Angehörige anderer Volksgruppen, aber diese Gebiete lagen jenseits der eigentlichen Reichsgrenzen.

      Durch diese Schlussfolgerung wird natürlich die These, dass im deutschen Sprachgebiet vor allem die Sprache identitätsstiftend war, grundsätzlich in Frage gestellt. Wir können weiter daraus schließen, dass der Standardisierungsvorgang im Deutschen ebenso sehr mit einem Staatsterritorium verbunden war wie im Falle von ähnlichen Vorgängen bei den anderen größeren europäischen Sprachen und auf der Identifizierung mit diesem Territorium als Nationsstaat beruhte. Da dieser Staat kein politisches Zentrum und keine Hauptstadt hatte, entstand die Standardvarietät, anders als in Frankreich, England oder Spanien, nicht an einem königlichen Hof und hatte keine Verbindung mit einer gesprochenen Varietät (etwa an einem fürstlichen Hof). Sie entstammte einem relativ komplizierten und erst in letzter Zeit einigermaßen einwandfrei erforschten Selegierungsprozess unter regionalen Schreibvarietäten (vgl. z.B. von Polenz 2013: 144–192). Aber sie war nicht minder eine werdende National- und Staatssprache als die anderen europäischen Sprachen, und die kulturpatriotischen Grammatiker und Dichter, die sie pflegen wollten, haben sie explizit als solche betrachtet. Insbesondere sind Gottscheds Bemühungen in der Deutschen Gesellschaft so zu verstehen, denn sie bezeugen nach Whaley (2012: 342) „a growing identification with the Reich“ und stellten sich als Ziel vor, dass

      true patriots should seek to speak a common High German language free of dialect or provincial elements, and in this way the cultivation of the common language would be the first step towards the promotion of the ‚honour of the Germans‘.

      So entstand im 17. und 18. Jahrhundert eine standardisierte Sprache, die den zeitgenössischen Ansprüchen an eine homogene Kultursprache entsprach, in einem Staatsgebilde, mit dem sich die maßgeblich am Prozess der Standardisierung beteiligte Bildungselite identifizierte und die es als „Deutschland“ bezeichnete. Auf diese Weise unterstützt der hier dargestellte Standardisierungsvorgang die von Schmidt (1999), Whaley (2012) und anderen vorgeschlagene Neubewertung des „Alten Reichs“ und widerlegt die traditionelle Annahme, dass in Deutschland die sprachliche Einigung vor der politischen Einigung erfolgte. Wir konnten zeigen, dass es sich bei dieser These um ein ideologisches Konstrukt handelt, das die Gründung des kleindeutschen Reichs 1871 unter preußischer Führung rechtfertigen und diese gleichzeitig als den lang ersehnten ersten echten deutschen Nationalstaat vorstellen sollte, der es eigentlich nicht war. Und auf dieser Basis lässt sich natürlich auch erklären, dass diese Sprache nach der modernen Etablierung unabhängiger Staaten mit Deutsch als offizieller Landessprache auch polyzentrisch geworden ist.

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