*** Vgl. Olivenbäume, S. 109–115 et pass.; Vielzeitig, S. 295f.
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 9. Dezember 2004 Nr. 45
Ich kannte Kraus-Epigonen älterer und jüngerer Prägung. Älterer Prägung z.B. Engelmann, PaulEngelmann* und Kraft, WernerKraft**, jüngerer Prägung z.B. Klaus von Welser, Klaus vonWelser***, der, als ich ihn kennen lernte – auch dem Aussehen, dem Haarschnitt und der Brille nach –, ganz auf den jungen Kraus, KarlKraus stilisiert war. Die Alten und die Jungen sprachen alle von „der Presse“, und der junge v. Welser, Klaus vonWelser donnerte und wetterte gegen die Journalisten, als würde er eben gerade die nächste Nummer der „Fackel“ vorbereiten. Aber ein großer Satiriker, der auch hassen muss, um aus dem Hass seine Liebe zu retten, wird, wenns hochkommt, einmal in hundert Jahren geboren. Wer aber kein Satiriker ist, soll Kritiker werden und nicht Aphorismen schreiben „gegen die Presse und die Journalisten“. Das ist ein kluger Rat, aber Epigonen ist eben nichts zu raten. Die Themen entscheiden also, die Erweiterungen im Aphorismus sind oft nur scheinbare.
Ich habe die Briefe von Margolius, HansMargolius gesucht und vorläufig nur einen gefunden, mit dem ich gar nicht rechnete, der mir eben zeigt, dass ich vielleicht Grund hätte, mit einiger Dankbarkeit von ihm zu sprechen. Wieviel Dank versäumt man doch im Leben! Aus dem Brief geht hervor, dass er sich auf die Suche machte, einen Verlag für mich zu finden. Der Versuch fruchtete nicht, aber da tauchen Namen auf, die auch bei Ihnen vorkommen (für mich weniger erfreuliche, wie z.B. Peter Coryllis, PeterCoryllis****). Aber das wäre vielleicht für Sie eine noch zu erhellende Ecke, mit dem Namen Doerdelmann, BernhardDoerdelmann***** verbunden, der Lektor war oder mehr in Rothenburg ob der Tauber und Coryllis, PeterCoryllis wie andere dieser Art, aber auch eine Reihe deutsch-israelischer Schriftsteller herausgab. Er gab auch eine Zeitschrift heraus. Seine Frau besuchte mich hier einmal und bat mich um Aphorismen, die wahrscheinlich dort auch abgedruckt wurden. Es ist lange her. Margolius, HansMargolius erwähnt in seinem Brief vom 25. Sept. 1974 auch Sigmund Graff, SigmundGraff******. Der Brief enthält die entwaffnende Antwort auf meine listige Frage, die für mich grundsätzlich war und ich jedem stellte, der vorgab, vom Aphorismus etwas zu verstehen: Wie stehen Sie zu Heuschele, OttoHeuschele (mein „rotes Tuch“)*******? Hier seine Antwort: „Die Aphorismen von OH kenne ich und besitze ich. Ich schätze sie sehr, soweit sie sich unmittelbar mit dem Leben und dem Menschen befassen. Die, in denen er zur Literatur und Kunst Stellung nimmt, stehen mir etwas ferner.“
Lec, Stanislaw JerzyLec ist natürlich im obigen Kontext von Epigonentum ein Kapitel für sich, in seiner Nachfolge gibt es fast nur Epigonen. Ob er in irgendeinem Sinn auch Schule machte, muss noch herausgestellt werden. Um seine Größe und Einfluss wirklich ausmachen zu können, muss man natürlich in die Ostländer, wo er und seine Sprache zu Hause waren.
* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 46 und Brief Nr. 50
** zu Werner Kraft, WernerKraft vgl. Brief Nr. 42, 43
*** Klaus von Welser, Klaus vonWelser (1942–2014), Germanist und Aphoristiker, 1969 bis 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bibliographia Judaica
**** zu Peter Coryllis, PeterCoryllis: Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 488–490
***** Bernhard Doerdelmann, BernhardDoerdelmann (1930–1988), Verlagsdirektor, Lyriker, Erzähler, Hörfunkautor und Lektor; vgl. Aberwenndig, S. 418
****** zu Sigmund Graff, SigmundGraff: Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 481–488 et pass.
******* zu Heuschele, OttoHeuschele vgl. Brief Nr. 24
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 14. Dezember 2004 Nr. 46
Paul Engelmann, PaulEngelmann (1891–1965) war ein Schüler von Adolf Loos, AdolfLoos, mit Kraus, KarlKraus und besonders mit WittgenWittgenstein, Ludwigstein befreundet. In seinen letzten Lebensjahren habe ich viel Zeit mit ihm verbracht, da stand meine Aphoristik in ihrer Blüte, sein Verständnis für mich war groß. Im Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002 schreibe ich auch darüber (auf S. 424 finden Sie einige von Engelmann, PaulEngelmann übersetzte Aphorismen).* Für meine Anfänge ist dieser Beitrag von Bedeutung, er wird Sie gewiss interessieren.
Ein schwieriges Kapitel für mich war und blieb die Schweizer Aphoristik, die mit Ludwig Hohl, LudwigHohl** ihren Canetti bekommen hat (den Canetti, EliasCanetti auch verehrt hat). Ich habe mich für ihn lange nicht interessiert, bis Adolf Muschg, AdolfMuschg 1985 (?) mich in Zusammenhang mit ihm brachte, da wurde ich neugierig, kaufte gleich zwei Bücher von ihm, wurde aber nicht warm. Das eine Buch habe ich gleich weitergegeben, behalten habe ich mir „Nuancen und Details“, vielleicht des Propheten Jona wegen (S. 65, auf der er auch Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg zitiert).
Muschgs Schwärmen für Hohl, LudwigHohl wird von Hugo Loetscher, HugoLoetscher ironisiert (Hugo Loetscher, Lesen statt Klettern. Aufsätze zur Literatur der Schweiz. Zürich: Diogenes 2003, über LH S. 210–233); zum Mythos LH empfehle ich Ihnen sehr J. R. von Salis, Notizen eines Müßiggängers. Zürich: Orell Füssli 4. A.1984, S. 160ff.
Mynona (Salomo Friedländer)Mynonas „Schöpferische Indifferenz“ – einschließlich der Aphorismen am Ende des Buches – verdient größere Beachtung.
Aus meinem Leben, weil Sie das interessiert:
Ich kann mir denken, dass Schopenhauer, ArthurSchopenhauers „Aphorismen“ über das weibliche Geschlecht mir Eindruck machten und mich in meiner Jugend freuten, da sie meine pubertäre „Erfahrung“ zu bestätigen schienen. Darüber schämte ich mich später, und das war der Hauptgrund dafür, dass ich in den siebziger Jahren Ronner, Markus M.Ronners Verleger*** verboten habe, Aphorismen von mir abzudrucken. Das billige Herziehen über die Weiber durch die Bände war mir zuwider. Das brachte mich in Konflikt mit Hanser, CarlHanser (der den Abdruck schon genehmigt hatte), und natürlich war es auch das Ende meiner Mitarbeit an der „Weltwoche“.**** Die Schweiz war mir in den sechziger Jahren, vor allem Margarete Susman, MargareteSusmans und Max Rychner, MaxRychners wegen, eine zweite Heimat. Von Max Rychner, MaxRychner, einem Aphoristiker zwischen Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe und Valéry, PaulValéry, spreche ich jetzt nicht, er gehört in meine Autobiographie, dort könnte ich ihm vielleicht gerecht werden. Was er über Aphoristiker geschrieben hat, wiegt seine eigenen Aphorismen auf.*****
Wie kommt es, dass alle Wortspieler, ob von Ost oder von West kommend, ein pessimistisches Menschenbild haben? Pessimismus ist ein Mechanismus und entspricht dem wortspieligen Bandfabrikat. Dieses Bild vom Menschen ist ein trügerisches, kein Mensch ließe sich hinter diesem finden. Was es mit dem Menschenbild auf sich hat, glaube ich in einer Begegnung erfahren zu haben. Vor vielen Jahren hat Gabriel Laub, GabrielLaub****** eine Lesung mit mir in Hamburg organisiert. Nach der Lesung kam der Aphoristiker E., den ich nicht kannte, auf mich zu, – ob er sich mir vorstellte? – und begann sofort, seine Reime in meine Ohren zu schütteln, es war eine ununterbrochene Kette, von der mir ein Glied in Erinnerung geblieben ist: „Ich sitze hier am Mittelmeer / und habe keine Mittel mehr.“ Schüttelreime prägen sich leicht ein, so prägte sich mir auch ein anderer, den mir Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz – ich kannte ihn noch – ins Ohr flüsterte: „Als Gottes Atem leise ging / schuf er den Grafen Keyserling, EduardKeyserling.“ Nach Hamburg zurück: Was hat der Aphoristiker, nach meiner Lesung, von mir gehalten? Was sollte ich von ihm, nach seiner Reimkanonade, denken? War er gekommen, um mir zuzuhören und vielleicht mit mir zu sprechen? Ich werde das nie erfahren, ist das aber, auch wenn ich es nicht als Demonstration bewerten wollte, nicht schon Erfahrung genug? Er ist der bessere, er kann mehr und kann mir das auch gleich beweisen – hier! Aber er irrte sich in mir. Ich gebe mich leicht und gern geschlagen, mir fällt es nicht schwer, Fähigkeiten zu schätzen, auch zu bewundern, wenn sie groß sind. Er war in Schütteln und Reimen der Gewandtere und Bessere. Beides will gekonnt sein! Schüttelreimend trug er also den Sieg davon. Warʼs ein Sieg? Der Sieg, den er meinte, der Sieg,