Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elazar Benyoëtz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001093
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Nr. 42

      Wie ernst die Geschichte des Aphorismus zu nehmen ist, kann man an Personen ausmachen, die nur herausgeberisch (einen Augenblick lang den Zeitpunkt bestimmend) von einiger Bedeutung waren, wie Margolius, HansMargolius. An ihm kann man mit größerer Gewissheit zeigen, was ein Aphorismus nicht ist oder „besser nicht sein sollte.“ Der gute Mann hat sich Jahrzehnte mit einer Gattung beschäftigt, von der er keine Ahnung hatte, über die er sich aber auch keine Gedanken machte. Aber er „beherrschte das Feld“ und hatte die Landschaft überflutet. Aber Sie sagen das ja selbst mehr oder weniger auch, nur: Sie haben das längere Maß und können auch einem Margolius, HansMargolius Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat nicht vergebens gewirkt, vielleicht haben seine eigenen Aphorismen, gegen die ich vollkommen immun war, auch „im besten Sinne“ Einfluss auf einige Seelen genommen. Schwer anzunehmen, leicht zu glauben. Er hat seine Aphorismen, falls Sie es nicht wissen, auch immer wieder im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlicht. ArthurHübscher, Arthur Hübscher war mit ihm befreundet, hatte jedenfalls ein Herz für ihn.

      Ich lebte ja mehr in der Literatur als in meiner Zeit. Es genügt, dass ich alle Namen, manchmal die Werke, manchmal sogar die Personen kannte. Wenn ich nun sagte, Werner Kraft, WernerKraft hatte überhaupt keinen Einfluss auf mich, ebenso wenig Ludwig Strauß, LudwigStrauß, würde das etwas bedeuten? In jedem Fall müsste es geprüft werden, denn es liegt doch nahe. Ihre Schlussannahme* kann ich also nicht von der Hand weisen, die Franz Baermann Steiner, Franz BaermannSteiner, Franz BaermannSteiner gelesen und mir abgeschrieben habe**, sie mussten also Eindruck auf mich gemacht haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich die Abschrift noch herausfinden könnte. Meine Wertschätzung Steiner, Franz BaermannSteiners als Dichter habe ich zitatweise wiederholt bekundet.

      * Vgl. Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 793; dort zu Hans Margolius, HansMargolius S. 366–371 et pass., zu Werner Kraft, WernerKraft S. 351–354 et pass., zu Ludwig Strauß, LudwigStrauß S. 359–366 et pass., zu Franz BaermannSteiner, Franz Baermann Steiner S. 354–358 et pass.

      ** Sprachliche Feststellungen und Versuche. In: Merkur 10, 1956, S. 966–973; Sätze und Fragen. In: Neue Deutsche Hefte 3, 1956/57, S. 336–338

      An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. November 2004 Nr. 43

      Ich bin Ihnen oder mir noch einen Nachtrag, Werner Kraft, WernerKraft* betreffend, schuldig. Ich musste wieder an ihn denken; meine Beziehung zu ihm war nicht einfach, sie war zuerst und auf längere Zeit negativ, was ich ihm auch zu verstehen gab. Dennoch begegnete er mir später, nach meiner Rückkehr, so entwaffnend unbefangen, dass ich mein Urteil über ihn revidieren musste und erst dann ihn wirklich kennen, ich meine zu schätzen und bisweilen auch zu lieben lernte. Liebenswert war er schon wegen seiner Liebe zur Dichtung, die beispiellos war. Dass ich ihm den Einfluss über mich absprach, hatte seinen Grund, war aber eng gedacht, auf sein Werk allein bezogen. Das gilt bei persönlicher, zuweilen naher Bekanntschaft nicht, und ich muss eben gestehen, dass Kraft, WernerKraft in einem Punkt einen bedeutenden Einfluss auf mich hatte und dies gerade, weil er mich zu schätzen wusste, so dass ich es damals annehmen konnte und heute anerkennen muss. Er sagte mir, ich sollte – anders als Kraus, KarlKraus – nicht nur über „das Wort“ schreiben, sondern auch über den Satz nachdenken. Das habe ich daraufhin getan: Das also ist sein direkter, guter und fruchtbarer Einfluss gewesen.

      Würde ich noch länger über Kraft, WernerKraft nachdenken, ich fände sicher noch anderes, was ich ihm zu danken habe.

      * Satzspiegel. Dem Andenken an Werner Kraft, WernerKraft. In: Filigranit, S. 67–84

      An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 1. Dezember 2004 Nr. 44

      Beginnt man früh mit Aphorismen, kommt man um seine eigene Lebensgeschichte. Kraus, KarlKraus war fruchtbar und bildend in seiner Zeit, und der Erste Weltkrieg „schenkte“ ihm „Die letzten Tage der Menschheit“. Der Zweite Weltkrieg, obschon aus dem Ersten hervorkommend, war etwas ganz anderes. Die Nachkriegszeit erforderte natürlich ein Verständnis für die „Letzten Tage“ und besonders für die „Dritte Walpurgisnacht“, erforderte aber keinen Anschluss an den Feind der Presse, an den Kritiker „der Sprache“, also keinen Anschluss an Karl Kraus, KarlKraus. Es war vergebens, aber nicht umsonst, denn für eine Rückkehr Canetti, EliasCanettis* war er unerlässlich. Nicht für ein Verständnis Canettis war Kraus, KarlKraus entscheidend, aber für sein Selbstverständnis. Er selbst konnte sich nur über Kraus, KarlKraus als Aphoristiker verstehen und entwickeln. Er war ein Augenmensch, dem das Ohr zum Aug nicht fehlte, der aber erst durch „Die Fackel im Ohr“ hörsichtig geworden ist. Das war notwendig, aber nicht schwer, denn Kraus, KarlKraus konnte man immer wieder hören. Kraus, KarlKrausʼ „Nachbild“ prägten Rück-, nicht Heimkehrer.

      Damit war der Grund für falsche Identifikationen gelegt. Das dauerte eine Weile, zum Glück nicht zu lange, bald zog die andere, politisch eindeutige und aktuelle Variante ins Land: Lec, Stanislaw JerzyLec. Er brachte mit sich allerlei Erleichterungen, so die Kraus, KarlKraus-Erleichterung. Das war ein großes Geschenk, von Dedecius, KarlDedecius großartig dem Volk beschert. Man hatte alles in einem, die ostwestliche Aktualität, den mangelnden politischen Witz, den sich nach Wien orientierenden Polen und ganz verschwiegen auch – den Juden. Man durfte Kraus, KarlKraus, dem seine Aphorismen nur das Kleingeld für den Großkrieg waren, vergessen. Mit diesem galizischen Juden beginnt die neue Geschichte des deutschen Aphorismus. Ich hätte Grund, mich zu freuen, doch ist mir Lec, Stanislaw JerzyLec „zum Verhängnis“ geworden.** Der Jude wurde durch Dedecius, KarlDedecius getauft: nicht zum Christen, aber zum Deutschen. Ohne auf Einzelheiten der Aphoristik und der Aphorismen eingehen zu wollen: Lec, Stanislaw JerzyLec wurde/wird nicht als fremder, nichtdeutscher Aphoristiker reflektiert, so bleibt er der „Rivale“, gegen den ich aufkommen musste und muss: nicht erst beim Publikum, schon beim Verleger. Die Verkaufszahlen lassen immer noch vergessen, dass er kein deutscher Sprachkünstler war. Der Pole ist durch den Erfolg Deutscher geworden, während ich der Israeli geblieben bin, was konkret besagt: Mich rezipiert man als Fremden. Und man würde wahrscheinlich, erführe man davon, staunen, dass mein Werk kein übersetztes ist.

      Lec, Stanislaw JerzyLec war ein großer Mann, sein Werk von großen Folgen und meist segensreich. Ich bin für ihn, er aber, fälschlich als Deutscher rezipiert, ist gegen mich. Vom Format her, ohne es zu wollen, ohne mich zu kennen, ist er mein Gegenspieler geworden. Müsste ich einen handfesten Grund nennen, weshalb ich mich irrte, als ich mich Hanser verschrieben habe, es wäre: Lec, Stanislaw JerzyLec, nicht Canetti, EliasCanetti, der noch anderes war und eher für anderes stand (Aphoristiker war er nur für eine elitäre Oberschicht, im Übrigen auch nicht zum Lachen). Lec, Stanislaw JerzyLec bedeutete auch, dass Aphorismen sich verkaufen und geschäftlich nicht zu missachten sind. Wird das Unfrisierte auch frisiert, es verkauft sich immer noch. Ich bot mich Hanser aber nicht als einen Unfrisierten an. Der Unterschied war nicht schwer zu erkennen (der damalige Leiter des Hanser-Verlags – Christoph Schlotterer, ChristophSchlotterer*** – erkannte ihn auf den ersten Blick), die Differenz war aber groß. Die Verkaufszahlen sprachen für mich, aber gegen meine Bücher. Ich hatte keinen Namen und trat ohne Werbung in die Welt, es haben sich gleich 1000 Menschen und mehr gefunden, die sich bereit erklärten, meine Gedanken aufzunehmen und für sich fruchtbar zu machen. Das hat der Verlag zur Kenntnis genommen, und er beschloss, es dabei bewenden zu lassen.

      Die großen Ost-West-Spannungen haben sich gelegt, der Aphorismus muss heute eine andere Rolle spielen, eine viel ernstere, doch steht heute Ernst für fad, und das Geschäft (um Gott z.B.) besorgen Sachbücher, die nicht zur Sache sprechen und nicht zu Buche schlagen.

      * Vgl. Manfred Schneider: Augen- und Ohrenzeuge des Todes. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Austriaca 6, 1980, Nr. 11, S. 89–101; Gerald Stieg: Elias Canetti und Karl Kraus. Ein Versuch. In: Modern Austrian Literature 16, 1983, H. 3/4, S. 197–210; Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus. Ein kritischer Vergleich. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23, 1998, S. 118–141; Manfred Schreiber: Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus. In: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Hg. von Susanne Lüdemann. Freiburg: Rombach 2008 (Reihe Litterae 150), S. 189–213; zu Canetti, EliasCanetti vgl. Olivenbäume,