Vor zwei oder drei Jahren erschien Annette Kolb, AnnetteKolbs Briefwechsel mit René Schickele, RenéSchickele, damit ist die Frage nach ihrem Antisemitismus laut geworden. Es ist eine Frage, aber eine für mich nicht mehr interessante, da ich nun alle meine Pappenheimer kenne. Antisemitismus lebt vom Hörensagen, vom Leichtsinn, aus Ignoranz und Charakterlosigkeit. Damit will ich seine Gründe nicht genannt haben, Annette Kolb, AnnetteKolb aber aus der langen Reihe der charakterlosen Schriftsteller herausnehmen. Das war sie in keinem Fall, in keinem Punkt; die Schwächen teilte sie mit vielen anderen. Die Stärke behält man für sich und zur Not. Sie gehört zu den besten, tapfersten und ehrlichsten Schriftstellern deutscher Sprache: auch hinsichtlich der Judenfrage; sie war sogar eine entschiedene und konsequente Zionistin, wovon man in Deutschland nichts wissen will; es ist leichter und billiger, für die große Europäerin zu schwärmen. Also bewährte sie sich im Leben und im Werk, für das sie in der Öffentlichkeit mit Namen und Gesicht, die sie hätte verlieren können, einstand. Mehr kann ich von einem Schriftsteller nicht verlangen. Kein deutscher Schriftsteller setzte sich mit einer Fußnote ein Denkmal, wie Annette Kolb, AnnetteKolb auf S. 176 ihres Romans „Die Schaukel“, Berlin 1934.****
Und schließlich ihre letzte Reise. Alle ihre illustren Freunde waren gegen ihre Reise; die 96jährige wollte von ihrem innigen Wunsch, das altneue Volk in seinem altneuen Land zu sehen, nicht lassen. Natürlich haben die Katholiken auch die Absicht ihrer Reise gefälscht, die Wahrheit darüber steht in meinem (vielverschwiegenen) Buch. „Dein Land ist schon mein Land geworden“ ist Annette Kolb, AnnetteKolbs letzte schriftliche Mitteilung an mich. Bodman, Clara vonClärle hatte mein Buch schon während seines Entstehens kennengelernt, sie zitiert mitunter sogar eine frühe Fassung, die im Druck nicht nachweisbar ist.
Unter welchen Umständen ich Margarete Susman, MargareteSusman kennengelernt habe, ist im Brief vom Oktober 1966 (aufgenommen in „Treffpunkt Scheideweg“, S. 115ff.) nachzulesen; wie ich zu Annette Kolb, AnnetteKolb kam – in meinem Buch „Annette Kolb und Israel“*****.
Zu Clara von Bodman, Clara vonBodman kam ich durch Empfehlung eines ehemaligen Nazis: Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, den ich in Konstanz besuchte, da ich auf der Spur Fritz Mauthner, FritzMauthners****** war, dem er, der Dichter Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, die Grabrede hielt. Scholz, Wilhelm vonScholz war ein Schulkamerad Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodmans, sie machten auch ihre ersten Schritte in der Literatur zu gleicher Zeit. Erst in der Nazizeit wandte sich Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman von Scholz, Wilhelm vonScholz ab. Ich kannte auch das Werk von Bodmans, vor allem aber wusste ich, dass er mit Gustav Landauer, GustavLandauer befreundet war, und die Briefe Landauers hatten mich interessiert. Nun sagte mir Scholz, Wilhelm vonScholz, die Witwe Emanuels lebe in der Nähe, in Gottlieben, und Frau Scholz – die mich herzlich gern loswerden wollte – telefonierte sogleich, und in zehn Minuten stand ich schon im herrlichen Treppenhaus in Gottlieben. Die Freundin, die mich dahin begleitete und dann wieder abholte, ist später meine Gattin geworden: eben jene, heute weitbekannte Miniaturmalerin Metavel (Ehefrau EBs)Metavel (vielleicht kennen Sie ihre „Haggada schel Pessach“, die bei Schocken herauskam). Clara von Bodman, Clara vonBodman wohnte wenigstens zweimal einem jüdischen Gottesdienst mit mir bei; ich erinnere mich an einen Jom-Kippur in Konstanz und an ein Wochenfest in Kreuzlingen. Durch ihren Besuch in der Synagoge in Kreuzlingen kam sie der Familie Robert Wieler, RobertWielers******* näher und wurde wiederholt eingeladen, den Schabbat mitzufeiern.
Sie wünschen sich Näheres über den Rilke-Brief********, was könnte ich noch dazu sagen? Er betrifft – für jenen Zeitpunkt ziemlich aufrichtig – mein Verhältnis zu Rilke, Rainer MariaRilke, meint aber noch ganz besonders Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman, für den Clara unablässig missionierte. Von mir und meinen Gedichten angetan, wollte sie in mir auch unbedingt den spätgeborenen Freund sehen, von dem Emanuel in einem Sonett träumte*********. Ihre Versuche, mich für Emanuels Gesamtwerk zu interessieren, musste ich abwehren, sonst wäre die vielversprechende, aber doch erst aufkeimende Beziehung zwischen uns in die Brüche gegangen. Ich war innerlich zu sehr mit „meinen Juden“ befasst und poetologisch bereits so weit von jener Generation weg, dass ich mich unmöglich mit dem lyrischen Werk Emanuels hätte beschäftigen können. Es mussten einige Jahre vergehen, bis ich geduldiger wurde und einer Lyrik wie der von Bodman, Emanuel vonBodmans gerecht werden konnte. Die „Gottlieber Dichterfreunde“ waren die Freunde eines einzigen Dichters, dessen Werk sie in schmalen, aber noblen Heften in einem kleinen Kreis verbreiten wollten. Der Dichter bin ich gewesen. Die Initiative ging von C. v. B. aus, die das Geld für das erste Heft vorstreckte. Druck und Vertrieb besorgte die Gottlieber Malerin Lore Gerster, LoreGerster. Es erschienen sechs Hefte; sie sind so gut wie vergriffen, tauchen antiquarisch selten und nie vollzählig auf.
* Edith SilberSilbermann, Edithmann, die auch eine bekannte Rezitatorin war, wollte einen Abend um den Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman in Düsseldorf veranstalten, woraufhin sie EB viele Fragen stellte; vgl. Olivenbäume, S. 221
** Margarete Susman, MargareteSusman (1872–1966), Essayistin, Lyrikerin; vgl. Allerwegsdahin, S. 99–105, 180f.; Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 33, 55; Vielzeitig, S. 273 et pass.; vgl. Aberwenndig, S. 49, 62, 101–106, 182, 306f., 359–361 mit Anmerkungen
*** Clara von Bodman, Clara vonBodman: Solange wie das eingehaltene Licht, S. 56–57; vgl. Allerwegsdahin, S. 124–126; vgl. Das Mehr gespalten, S. 198f.
**** Annette Kolb, AnnetteKolb: Die Schaukel. Roman. Mit einem Nachwort von Joseph Breitbach, JosephBreitbach. Berlin: S. Fischer 1977, S. 160: „Vom Tage an, da die Juden im geistigen Leben an Einfluss gelangten, machten sich in der gefährdeten Existenz des Künstlers gewisse Chancen fühlbar, dass er nicht mit einer Mühsal wie bisher […] sich durchzuringen hatte. […] Wie dem auch sei, wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewusst bleibt. (Dieser Roman entstand 1934 in der Emigration.)“
***** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel, S. 29–32
****** FritzMauthner, Fritz Mauthner (1849–1923), Philosoph, Schriftsteller, Publizist. In Meersburg am Bodensee entstand die von Martin Buber, MartinBuber angeregte und Gustav Landauer, GustavLandauer gewidmete Monographie „Die Sprache“ (1907).
******* Robert Wieler, RobertWieler, geboren 1912, war Mitbegründer der jüdischen Gemeinde in Kreuzlingen und ist 2012 in Jerusalem gestorben.
******** Solange wie das eingehaltene Licht, S. 39–42, vgl. „Vielzeitig“, S. 168
********* „Du fremder Freund, den ich nicht sah, noch kenne / Du bist mir nah in manchen späten Stunden, / Wenn ich die Tagesarbeit überwunden / Und wach im Kreise meiner Lampe brenne” […]. (Bodman, Emanuel vonBodman: Der unbekannte Freund. In: Die gesamten Werke 3, S. 159)
An Ulrich Sonnemann, 21. Januar 1992 Nr. 28
Lieber Ulrich, Dein Geburtstag rückt näher, schon steht er bevor, die vielen kleinen Wörter ballen sich zu einem großen Wort zusammen, wie soll es lauten, soll es heißen. Du hast so viel erlebt, erreicht, bewirkt, und wurdest von keinem guten Geist verlassen. Deine Rückkehr nach Deutschland, das kann man schon sagen, gehört zur Geschichte des neuen Deutschlands.* Und nun steht auch Dein Wort wieder an einem Anfang: poethisch, deutschbekümmert, europa-würdig. Dein Rückblick mit 80 wird nicht mehr nur Trümmer sehen. Ich freue mich Deines Rückblicks, bin froh, Dein Werk solange begleitet haben zu dürfen und danke Gott, dass ich mich, ohne Verdienst, doch reinen Herzens Dein und Brigittes Freund nennen darf.
* Sonnemann, 1940 in Brüssel verhaftet und im Lager Gurs interniert, konnte 1941 von dort aus in die USA flüchten. Er kehrte 1955 nach Deutschland zurück. Vgl. EB: Logorhythmen. In: Sabotage des Schicksals. Für Ulrich Sonnemann.