* Ab 2018 wird im Rahmen eines Schweizerischen Nationalfonds-Projektes eine historisch-kritische Ausgabe einer Auswahl aus Joh. Caspar Lavater, Johann KasparLavaters Briefwerk vorbereitet; vorgesehen sind zehn Bände. Diese werden, wie schon die Ausgewählten Werke Lavater, Johann KasparLavaters, im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung erscheinen.
An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 21. Mai 2016 Nr. 23
Ich schicke Dir die erste Auswahl*, die müsstest Du nun strenger durchkämmen. Das Endziel, denke ich, soll ein Arrangement sein, das deute ich mit den ersten Auszügen an: Brief – Freundschaft – Werk.
Meine Stimme ist die häufigere und die lautere, sie müsste gedämpft werden. Nun sage ich Dir etwas, das Du von mir kennst, das Dir aber – nach wie vor fremd ist: „Gedruckt“, was und wie auch immer – bedeutet: Text, Lesestoff, Literatur. Und Literatur muss schön und gut oder gut und schön sein. Die Verantwortung des Autors gilt dem Text gegenüber, ist er gut (geworden) – hat er seine Pflicht erfüllt.
Unsere Freundschaft besteht, ist ein Faktum, unantastbar, die Briefe sind ihr Ausdruck – unveränderlich: In der Intimität und posthum. Die Veröffentlichung ändert daran nichts, aber das dritte Auge der lesenden Neugier, das die Intimität weniger interessiert und von Dichtern möglichst Dichtes erwartet, zumal in einer rein literarischen Umgebung, wie die einer Festschrift. Alles, was im Leben gilt, gilt auch in der Literatur und für uns, z.B. Kosmetik. Du gebrauchst sie im Leben, sollst sie auch in der (Brief-)Literatur gebrauchen dürfen, Du korrigierst ja auch andere Fehler. Ob ich damit Recht habe? Es ist keine Rechtsfrage, ist Kosmetik und gehört zur schönen Literatur wie zum schönen Leben. Ich spreche von Briefen, nicht von Briefeditionen, von Ästhetik, nicht von Philologie. Ich schreibe, wie es kommt, und sage, wie es ist, das Schreiben vor Augen und hinterm Ohr. Wie immer Du duftest, wie gut Du dich schminkst, wir werden uns treffen. Oder einander verfehlt haben. Du bist der Brief.
Dies zur Erklärung meines Standpunkts, Deiner bleibe, wie er ist, tadellos und unantastbar.
Was ich von Dir bitte: dass Du Dir ein Wunschbild vom Beitrag machst; dass Du streng auswählst und ohne Rücksicht kürzest und streichest. Denk an Dich, an mich nur, wenn und wo unumgänglich. Vor allem muss Deine Stimme vernommen werden. Du wirst erkennen, was du gern gesagt hast oder wieder gern sagen würdest. Wenn Du die Redaktion in dem Sinne durchgeführt hast, setze ich die Auswahl fort.
* Elazar Benyoëtz – Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser: Die Freunde des Dichters machen die Lesbarkeit seines Werkes aus. Aus dem Briefwechsel 2004–2016. In: Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser: Porträts, Lesarten und Materialien zu ihrem Werk. Hg. von Klaus Isele, KlausIsele. Norderstedt: Books on demand 2016, S. 56–84
II „Lebten wir in Zeit und Geist genössisch?“ – Zeitgenossen
Von Manfred SturSturmann, Manfredmann, 8. September 1966 Nr. 24
Ich freue mich, dass Sie das bibliographische Material nunmehr für Ihr Archiv beisammen haben.
Herr Otto Heuschele, OttoHeuschele* hat sich in meinem „früheren“ Leben in rührender Weise bei meinem Start als junger Schriftsteller für mich eingesetzt. Da mir aber keinesfalls klar ist, welche Haltung er während der Nazizeit eingenommen hat, besteht von meiner Seite nicht die Absicht, die Verbindung mit ihm aufzunehmen. Wenn er mir schreibt, werde ich ihm selbstverständlich höflicherweise antworten.
* Otto Heuschele, OttoHeuschele (1900–1996), Schriftsteller, Essayist, Aphoristiker, Herausgeber; vgl. Brief Nr. 45
An Manfred SturSturmann, Manfredmann, 1. Oktober 1966 Nr. 25
Was Herrn Heuschele, OttoHeuschele betrifft, haben Sie gewiss recht. Wir werden ja sehen, ob er sich meldet. Gerechterweise will ich vorsichtig sein und ein Sich-nicht-Melden nicht gerade als Zeichen des schlechten Gewissens beurteilen. Indessen will ich aber den „Fall“ untersuchen. Ich dachte anfangs nicht daran, weil er mir, als ich kam, andeutete, Herr Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz*, den ich vorher gesprochen hatte, wäre doch nicht einwandfrei. So hielt ich ihn selbst für „einwandfrei“, was mir durch seine harmlose Erscheinung bestätigt zu sein schien. Nun aber will ich Ihnen noch einen anderen Gruß bestellen – von Georg von der Vring, Georg von derVring**, mit dem ich befreundet bin, den ich auch lieb habe. Er ist bestimmt einwandfrei***. Es geht ihm in letzter Zeit nicht gut, sogar so wenig gut, dass man kürzlich schon das entsetzliche Gerücht verbreitete, er wäre gestorben. So schlimm ist es aber nicht, er ist nur alt geworden und hatte sich einen Arm gebrochen. Er ist ein wirklicher Dichter, wenn auch die junge Generation solche Dichtung nicht mehr gelten lassen will. Deshalb bleibt er es dennoch, allen zum Trotz.
* Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz (1874–1969), Schriftsteller, Aphoristiker. Er arrangierte sich früh mit dem NS-Regime und wird wegen seiner zustimmenden Haltung zum Nationalsozialismus der NS-Literatur zugerechnet – so lt. Wikipedia
** Georg von der Vring, Georg von derVring ( 1898–1968), Schriftsteller und Maler; vgl. Die Eselin Bileams und KoheletKohelets Hund, S. 190 ; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 58
*** Bestimmt einwandfrei: „So vorsichtig prüfend ich mich glaubte, musste ich mir nach und nach das ,bestimmt ʻ sowohl als auch das ,einwandfreiʻ abgewöhnen; das geschah nicht ohne Folgen für meine Aphoristik.“ (An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 25.4.2018)
An Hildegard Schultz-Baltensperger, HildegardSchultz-Baltensperger, 13. Januar 1991 Nr. 26
Dank für das allermerkwürdigste „Du“-Heft*. Als ichʼs in der Hand hielt, dachte ich, ich hätte Deinen Brief nicht richtig gelesen, Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt könne doch unmöglich gestorben sein. Die Einleitung zum Heft las sich aber wie eine melancholische Ironie, als würden Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt oder seine Seele irgendwo im Raum über uns schweben. Das tat sie dann also auch. Ein Zusammentreffen von Datum und Seele in einem Zwischenraum. Voreilig schickte ich Christoph Grubitz, ChristophGrubitz** zum Neujahr eine aphoristische Auswahl aus Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatts Werken (Diogenes-Büchlein)*** mit meinen verdrossenen Anmerkungen. Ich glaube nach wie vor, dass Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt groß im Großen ist, aber nicht im Kleinen. Unbegreiflich war es mir, wie er dieser Auswahl nur zustimmen konnte. Jetzt, nach dem Interview mit ihm, kann ich es verstehen. Die Schweiz hat ein Prachtexemplar seiner besten Gattung verloren, Israel einen seltenen, auch kostbaren, weil nur kritisch liebenden Freund.****
* Du – die Zeitschrift der Kultur. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt (70). Tages-Anzeiger Zürich 1991. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt starb im Dezember 1990.
** Vgl. Verzeichnis der Briefpartner(innen)
*** Das Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt Lesebuch. Herausgegeben von Daniel Keel. Mit einem Nachwort von Heinz Ludwig Arnold, Heinz LudwigArnold. Zürich: Diogenes 1991
**** Presseartikel „ Ich stelle mich hinter Israel“ (1973), Träger der Buber, MartinBuber-Rosenzweig, FranzRosenzweig-Medaille 1977, Ehrendoktorat Jerusalem
An Edith SilberSilbermann, Edithmann, 10. August 1991* Nr. 27
Nicht ich habe Margarete Susman, MargareteSusman** die „große Großmutter“ genannt, sondern Bodman, Clara vonClärle***, die sich selbst dann die „kleine Großmutter“ nannte. Sie war um fast zwanzig Jahre jünger als Margarete Susman, MargareteSusman, verehrte sie aber auch. Margarete Susman, MargareteSusman ist mir ganz natürlich Großmutter geworden, Bodman, Clara vonClärle wollte es sein, Annette Kolb, AnnetteKolb – die