Das Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung (Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das Prinzip der Körperausschaltung vermittelst künstlicher Werkzeuge.4
Die Antwort des Tieres auf Anpassungszwänge der Umwelt ist die organische Anpassung, die Antwort des Menschen auf das Andrängen der Umwelt ist die Entwicklung entsprechender Werkzeuge bei grundsätzlicher Beibehaltung seiner physischen Verfassung. Somit ist die Entwicklung des Menschen keine Steigerung der tierischen, sondern ein echtes „Novum“5 und der Mensch vom Tiere als wesensverschieden6 bestimmt.
Alsberg versteht unter Organ „jedes anatomisch und funktionell zusammengehörige Teilgebilde des Körpers“7 und unter Werkzeug „ein jedes außerkörperliche (künstliche) Mittel, mit welchem eine Ausschaltung des Körpers bewirkt wird.“8 Diese Unterscheidung ermöglicht es ihm zwischen „Überorganischem“ und „Außerorganischem“9 zu unterscheiden und auch den Tieren Tradition im Sinne überorganischer Weitergabe von Verhalten zu konzedieren, ohne dass der Triebmotor des Entwicklungsprinzip des Menschen, die Körperausschaltung per Werkzeug, dabei in Anschlag gebracht werden muss.
In Anwendung seines Werkzeugbegriffs führt Alsberg stringent auch Sprache und Begriff, sowie weiterhin Moral und Ästhetik seinem Menschheitsprinzip der Körperausschaltung zu. Im Wort erkennt er das lautliche oder sprachliche Werkzeug10, dessen Stoff geistiger Natur ist und schließt:
Wie das stoffliche Werkzeug, so ist auch das Wort ein absolut selbständiges Gebilde, es führt ein Leben für sich und ist in seinem Dasein allein an den Gegenstand gebunden, als dessen Symbol es auftritt.11
Er präzisiert die Sprache als ein „außerkörperliches (künstliches) Werkzeug, mit welchem der Mensch die Ausschaltung seiner Sinnesorgane bewerkstelligt und damit das Prinzip der Körperausschaltung befolgt.“12
Als gegenstandsgebundenes Werkzeug, welches außerkörperliche Wahrnehmung vertritt, sei es ebenfalls ein Novum und keine Steigerung von Bisherigem13.
An dieser Stelle konstatiert er jedoch einen „Drang nach Vervollkommnung“14, den er der Technik wie der Sprache zuspricht. Allein die Einführung eines Telos, um Entwicklungen bei Technik und Sprache zu begründen, scheint mir eine überflüssige Zutat, finden wir doch schon beim täglichen Umgang und der Anwendung beider Arten genügend Motive, um diese entsprechend den Notwendigkeiten des Augenblicks weiter zu entwickeln. Hier reicht das Spektrum von zwingender Notwendigkeit bis zum Zufall. Ein wie auch immer geartetes inhärentes Telos dabei scheint mir deshalb entbehrlich.
Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung
Unter Anwendung der Reihe: „comparatio – abstractio – reflexio“1 erklärt Alsberg den Vorgang der Abstraktion mit der „Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Merkmal“2 und erreicht somit die Höhe des Begriffs, den er sogleich im Unterschied zum Wort, welches für ihn „Gegenstandssymbol“3 ist, als „Beziehungssymbol“4 bestimmt. Im Rückgriff auf Schopenhauer erklärt er die Tätigkeit des Verstandes als die Umwandlung der „Sinnesempfindungen in Wahrnehmungen und Vorstellungen“5, während die Vernunft „das Vermögen der Begriffe“6 darstellt. Mit Hilfe des Begriffs eröffneten sich dem Menschen ganz neue Perspektiven:
Er sieht nicht nur das Heute, sondern auch das Gestern und Morgen; nicht nur das Nahe, sondern auch das Ferne; nicht nur das Einzelne, sondern auch das Ganze in unserem Vorstellungsbereich und schafft auf diese Weise, einen neuen, in die Tiefe und Breite dringenden Lebenszusammenhang.7
Dann bestimmt er die „Besonnenheit“8 als das Werkzeug des Kulturmenschen, die „Wahrheitsidee“9 als dasjenige der Wissenschaft und die Idee „des Guten“10 als das Werkzeug des Prinzips der Körperausschaltung. Das ästhetische Erlebnis ist für Alsberg subjektiver Art, welches die tätige Anwendung des Entwicklungsprinzips des Menschen, die Köperausschaltung, auf den Akt der Wahrnehmung des Schönen anwendet und somit die tierische Komponente der „begehrlichen Körperlichkeit“11 suspendiert. Auf diese Weise entsteht ein der Natur entzogener Raum, in welchem das Schöne erscheinen kann.
Wenn wir aber in der ästhetischen Betrachtung alle praktischen Lebenszusammenhänge durchschneiden, so heißt das nichts anderes als den Akt der „Körperausschaltung“ vollziehen. Das „Schöne“, das ästhetische Erlebnis, tritt „an Stelle“ der begehrlichen Körperlichkeit. So erweist sich auch die Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung.12
Die Körperausschaltung wird als ein Akt der Vernunft deklariert, da sie in „jedes Mal gleicher Art, durch eine gleiche Selbstobjektivierung vermittels abstrakter Ideen herbeigeführt“13 wird.
Das Reich des Schönen und die Selbstwerdung des Menschen
Das Tier, schreibt Alsberg, ermangelt der Ästhetik, weil es „im Zuge seines Entwicklungsprinzips, welches dauernde und intensive Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse und Geschehnisse der Umgebung gebietet“1, die oben genannten Lebenszusammenhänge nicht durchschneiden und sich nicht auf diese Art selbst verobjektivieren kann. Wir erkennen in dieser Beschreibung eine die gesamte Durchführung des Werkzeuggedankens sowie des Prinzips der Körperausschaltung zugrunde liegende Bedingung der dringenden Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt, welche ständig und ununterbrochen von ihnen geleistet werden muss. Allein dem Menschen ist es ob seiner Werkzeugtätigkeit vorbehalten, sich den Begehrlichkeiten der Natur entziehen zu können, und Zeit für die Betrachtung des Schönen zu gewinnen. Das Schöne findet nach Alsberg ein natürliches Arbeitsfeld in der Gattenwahl2. Und wie eine moralische Pflicht auf der „Körperaufopferung nach Maßgabe abstrakter Motive“3 bestehe, so bestehe eine ästhetische Pflicht in der Ausschaltung der körperlichen Begehrlichkeit und der Gattenwahl nach rein ästhetischen Gesichtspunkten nach Maßgabe eines Schönheitsideals vom menschlichen Körper und ist „im Rahmen des Menschenlebens eine naturhafte Aufgabe“4.
Danach wandelt auch in seinen ästhetischen Eingebungen der Mensch die vorgezeichneten Wege der Natur. Was das tierische Entwicklungsprinzip durch Instinkt erzwingt, das leistet das Menschheitsprinzip durch bewusste Ideale.5
Die Idee verkörpert den Werkzeuggedanken und stiftet die Einheit von Menschheitsprinzip und Kulturprinzip6. Damit ist auch die Aufgabe der Kultur bezeichnet. Sie besteht in der Pflege – cultura – der Entwicklung der entsprechenden Werkzeuge in Technik, Sprache und Vernunft. Dieser Art wird das Menschheitsprinzip zum sittlichen Prinzip, welches zum „Vollmenschentum“7, seinem Telos hinführt und in der „vollendeten Ablösung des Instinkts durch die Bewusstheit“8 mündet. Innerhalb dieser Entwicklung fallen der Ästhetik noch weitere Aufgaben zu, denn so, wie sie mit Hilfe des Schönheitsideals die „Naturzüchtung“ 9 zu leiten übernommen hat, gibt sie in der Erhaltung der Körperlichkeit auch die Richtung für Körperpflege und Kosmetik vor, und dies Alles im Dienste der „Selbstvollendung aller vom Menschheitsprinzip aufgreifbarer Anlagen im relativen Sinn einer höchstmöglichen Entfaltung“10. Metaphysisch interpretiert ist der Mensch für Alsberg „Sinn der Erde“11 und doch, so schließt er, ist „Kultur nichts anderes als zum Leben erstandenes Menschheitsprinzip“12 und zitiert Pindar mit: Werde, der du bist!
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