Mit dem Kompositum Gefühlsdrang kennzeichnet Scheler im „Gefühl“5 das oben genannte Urphänomen des Lebens, jenes Fürsich- und Innensein, und begründet damit ein erstes Sich-gegeben-Sein des Lebendigen. Zugleich verweist jenes Fürsich- und Innensein auf ein Außen und stiftet im selben Atemzug das Gegenüber des Lebewesens seine Welt oder besser seine ihm zughörige Umwelt. Mit dem Rückgriff auf das Wort „Drang“ – in seiner Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert als „innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls“6 – verweist er auf einen makrokosmischen Vorgang, welcher sich als solcher eben auch im Lebendigen abbildet und abbilden müsse. Denn die Wesensstufen des Lebendigen befinden sich für den Metaphysiker Scheler eingebettet in ein Weltgeschehen, innerhalb dessen er dem Menschen als Summe des Lebendigen und des Geistes seine ihm spezifische Rolle zuweist. So fragt Scheler, nachdem er die Leiter des Lebendigen bis zum Menschen erklommen hat:
Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden – um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen?7
Damit reserviert Scheler dem Menschen ein „ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.“8 Dies ist durchaus als eine kritische Replik auf das Menschbild des homo faber aufzufassen. Er distanziert sich damit auch von einem Menschenbild, welches sich in mechanistischen Metaphern von Stoß und Zug erklärt, und zu deren Urvätern auch Descartes oder Kant gehören. Zugleich jedoch verschließt er sich einem Panpsychismus, da er die unbelebte Materie aus dieser Konzeption des Lebendigen verdammt.
Schelers metaphysische Weltkonzeption weist dem Menschen eine tragende Rolle zu. Denn dieser ist als Leben und Geist vereinendes Wesen mit seinem Zentrum der Person aktiver Träger der makrokosmischen Entwicklung, welche sich weder pantheistisch noch panentheistisch als creatio continua9 der Ens a se geschichtlich realisiert. Es ist der allseits bekannte Gedanke eines teleoklinen Weltgeschehens mit dem Menschen als Erfüllungsfigur. Die spezifische Konstruktion dieses Bildes verdankt sich dem metaphysischen Hintergrund, denn das „Sein der Substanz ist ewig; aber das Dasein Gottes als der Identität des Geistes und der Idee ist nur ein Werden“10. Ein Werden, welches durch den Menschen in der Rolle des Ausführenden eines göttlichen Willens – der sich im Geiste manifestiert – ausdrückt:
Der Substanzielle Weltgrund hat zwei Attribute: den Geist und das Leben. (Der Geist realisiert sich in forma von Person; das Leben in Form von Organismen). Sein «Werden» besteht in Vergeistigung des Lebens (Bewegung von oben nach unten) und Verlebendigung (Realisierung) des Geistes (Bewegung von unten nach oben). Der Wille Gottes ist nur das «non non fiat» – nicht das fiat. Darum ist 1. die geistige Gottheit nicht verantwortlich für die Welt. Denn ihre «Macht» war nur negativ; 2. ist das «aus Nichts» vermieden; denn der schöpferische Drang schafft das, was er schafft, aus sich selbst. Der Drang als das realisierende Prinzip ist an sich jenseits von Gut und Böse; gut-schlecht.11
Die Mechanik des „non fiat“ (hemmen) und des „non non fiat“ (enthemmen) findet sich in der Kosmosschrift als „Lenkung“ des metaphysischen Geschehens mittels des Geistes beschrieben12 und besteht in dem vom Geist und dessen Ideen geleiteten Willen, welcher sich den unerwünschten Triebregungen und Vorstellungen versagt und ideen- und wertangemessene Vorstellungen dem Trieb zur Realisierung vorsetzt. Der Geist realisiere sich in der vom Drang geschaffenen Welt und verlebendige sich, während auf der anderen Seite der an sich machtlose Geist die Energien aus dem Drang erhielte. Scheler schließt sich mit dieser metaphysischen Mechanik den Ideen Nicolai Hartmanns an, der „die höheren Seins- und Wertkategorien“ von Hause aus für die schwächeren erkläre13, und kehrt die traditionelle philosophische Anschauung zur Macht und Ohnmacht des Geistes um. Denn die aristotelische Tradition meinte im nous poietikos14 ein machtvolles metaphysisches Agens ausmachen zu können.
Die Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst ist ohne das Mitwerden der Welt nicht möglich. Indem der [209] Drang – drängte, seinen unendlichen Reichtum an Richtungen in Phantasiebildern zu entladen, wäre doch ohne den Geist nur ein bestandloses Chaos entstanden. Er musste sich Ideen des Geistes und seinen Werten unterwerfen, die der Geist aus seinen unendlichen Möglichkeiten also auswählte, das ein bestandfähiges, ja ein sich Vervollkommnendes zustande kam. Auch die anorganische Welt enthält weder quantitative noch qualitative absolute Konstanten. Sie gleichen dem Chaos umso mehr, je älter die Stufe ist, auf der wir sie betrachten. Die Natur ist an zufälligem Sosein nur das Phantasiespiel der Gottheit als Drang – geleitet durch den Eros, der zu Gestalt und zu Schönheit richtet.15
Das göttliche Wesen realisiere sich in der Welt mittels des Geistes, dessen Träger, der Mensch, an den Ausführungen jenes Prozesses selbst direkt beteiligt sei. Dies sichere ihm eine Sonderstellung im geschichtlichen Werden der Welt zu, und diese Sonderstellung sei das Resultat der direkten Rückbindung des Menschen an einen „Weltgrund“16, – womit sich seine privilegierte Stellung unter den Lebewesen bestätigte. Es handelt sich bei der Schelerschen Konzeption um eine ausgearbeitete „Metaphysik des Menschen“17.
Ausdruck, Empfindung, Wirklichkeit und Wahrnehmung
Ausdruck besteht bei Scheler in einer Regung, in einer allgemeinen Veränderung und letztlich in einer Bewegung, durch die sich etwas ausdrücklich zu werden anschickt und bemerkbar macht. Aus dem Gesamt der Eindrücke beginnen einzelne sich herauszulösen. Dabei muss deren Ausdrücklichkeit sich noch nicht wirklich im einzelnen kundtun, sondern kann von der Empfindung vorher schon angemahnt worden sein. Der Ausdruck gehe jedoch der Empfindung voraus, denn der Ausdruck sei ein „Urphänomen des Lebens“1 und aufs engste mit dem empfindungs- und vorstellungslosen Gefühlsdrang verbunden – der untersten Stufe des Lebens –, welcher alle seine Formen durchzieht. Schon im pflanzlichen Dasein gebe es ihn, und er drücke „eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm“2, aus.
Der Ausdruck scheint derart grundlegend für das gesamte Leben zu sein, dass es dem Menschen noch heute außerordentlich schwer fällt, die Ausdrucksqualitäten dessen, was er betrachtet, bewusst außen vorzulassen. Der nüchterne wissenschaftliche Blick auf die Naturphänomene ist eine Errungenschaft der Neuzeit, und das Erwachen des menschlichen Bewusstseins kennt in allen Kulturen die Projektion der Innenzustände des Lebewesens Mensch in seine Außenwelt, welche sich durch ihn begeistert und sich mit mythischen Wesen erfüllt zeigt.
Auch die Empfindung wächst bei Scheler aus der Bewegung. Sie ist erlittene Bewegung, und er definiert ihre allgemeinste Idee als „Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegung kraft dieser Rückmeldung.“3
Der Reflexbogen, den Scheler hier beschreibt, äußert sich in der auf die Empfindung folgende Bewegung, wobei in diesem höchst innigen Zusammenhang noch nicht entschieden ist, in wieweit die Bewegung eine geführte oder irgendeine allgemeine, unbestimmte Bewegung ist. Sicher bleibt jedoch, dass sie eine Folge der erlittenen Bewegung, also Empfindung, ist und sich als ein Tun des Lebewesens äußert. Dieses Tun wird alsdann wiederum empfunden. So schließt und öffnet sich zugleich ein Kreis der anlandenden Empfindung; einerlei, ob durch das Tun des Lebewesens selbst provoziert oder willkürlich erlitten. In seiner Konsequenz jedoch eröffnet sich dem Lebewesen ein Raum, ein Dazwischen, ein freier Raum, zwischen sich und Welt, eine kleinste Fraktur, welche es von der Welt scheidet und dieser gegenüberstellt. Empfindung ist in diesem Sinne eine Zustandsempfindung der Selbstbewegung. So verschieden Empfindung und Bewegung scheinen, erwachsen sie gleichursprünglich mit dem Leben.
Alle Kunst jedoch entsteht aus geführter Bewegung, aus tätigem Empfinden, einer sozusagen zweiten oder dritten Potenz der Empfindungsmöglichkeiten. Die Voraussetzung dafür finden wir mit Scheler bereits auf der untersten Stufe des Lebens, dem Gefühlsdrang. Selbst die einfachsten Empfindungen, seien nämlich „nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“4
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