Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen.“2
Die Dialektik, die Plessner hier anspricht, ist durch das Wesen des Lebendigen selbst als ein Sich-Veränderndes bestimmt. Ein Gegenstand, welcher sich dem Beobachter als ein solcher darbietet, braucht für die theoretische Beschreibung notwendig eine Methode, welche sich ihm auch anzupassen weiß. In der Kombination von phänomenologisch-hermeneutischer Betrachtung und Dialektik ensteht der theoretische – der erschaute – Gegenstand: das lebendige Ding.
Die Stufen basieren als Ontologie des Lebendigen also auf der Funktion der Grenze als Membran.
Membranen sind nicht bloße Oberflächen, die jeder Körper je nach seinem Aggregatzustand gegen angrenzende Medien eines anderen Aggregatzustandes hat. Sie sind vermittelnde Oberflächen. An ihnen ist der Körper nicht einfach zu Ende, sondern zu seinem Medium in Beziehung gesetzt.3
Membranen dienen somit als Definiens des Lebendigen, verlängern die Absicht – wie schon in der Ästhesiologie neben dem kantischen Schematismus der Tagmatismus und Thematismus – der Plessnerschen materiellen Erkenntnistheorie in das allgemein Seiende, genauer: das lebendig Seiende, hinein. Deshalb muss Plessner mit dem Begriff der Grenze zwingend den Sprung aus der ideellen Begrifflichkeit in den ontologischen Sachverhalt wagen. Mit der Grenzhaftigkeit der seienden Dinge allein, in ihren beiden Formen – Rand oder Membran –, ergibt sich die Differenz zwischen dem unbelebten und belebten Ding als ontologischer Tatbestand, ohne dass dafür der Rückgriff auf weiterführende naturwissenschaftliche, metaphysische oder andersgeartete Begrifflichkeit erforderlich wäre. Nicht feststellbar oder darstellbar, jedoch erschaubar, ein intuitiver Tatbestand und erweislich in seiner Anwendung, kommt der Plessnersche Grenzbegriff präzise auf jener Erkenntnisabsicht zu liegen, welche er als phänomenologisch-hermeneutische Methode bestimmt, die sich im Stufenbau des Lebendigen auch mit ihrer Dialektik als tragfähig erweisen muss. Gelänge es, aus diesen methodischen Bausteinen auf der Basis des Begriffs der Grenze die differentia specifica des Lebendigen unter den Seienden Dingen in ihrer Vielfalt herauszuarbeiten, so hätten sich die Idee, ihre Begrifflichkeit wie ihre Methode im Rückblick bestätigt.
Was für den Begriff der Grenze gilt, besitzt auch Gültigkeit für weitere Konzepte im Aufbau der Stufen, ob es sich dabei um das Konzept der Doppelaspektivität4, der Form in ihren beiden Spielarten der offenen Form5 und der geschlossenen Form6 oder ob es sich um die Form der organischen Organisation im engeren Sinne, der dezentralen7 und zentralen8 Organisation, handelt. Dasselbe gilt ebenfalls für die zentralen Begriffe der Positionalität9 und der exzentrischen Positionalität10 ‒ wesentlich für die Bestimmung des Menschen in Plessners philosophischer Anthropologie. Immer trifft Vokabular, gewonnen aus der theoretischen Anschauung, auf einen ontologischen Sachverhalt. Der Blick des theoretikos ist Entdeckung und Erfindung zugleich. Bewahrheiten muss er sich in der prüfenden Rückschau.
Eine Theorie der konstitutiven Wesensmerkmale oder Modale des Lebens, […] als notwendige Ausprägungen einer bestimmten Seinsgesetzlichkeit zu erkennen, entfernt sich damit zwar unvermeidlich von der Sphäre der konkretsinnlichen Anschauung […] Aber sie stützt sich doch nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe, und sucht unter Vereinigung dieser Sachverhalte die Wesensphänomene des Lebens in ihrer Differenzierung zu begreifen.11
Der intuitiv gewonnene Sachverhalt kann keinen Bestand haben, wenn er keine Entsprechung in der Welt findet. Hat er Bestand, dann begegnen sich beide Perspektiven vermittelt im sich beobachtenden Beobachter, der Körper hat und zugleich Körper ist. Die sich im Laufe der kritisch theoretischen Betrachtung in den Stufen entwickelte Begrifflichkeit bedarf – um lebendige Prozesse darstellen zu können – jedoch einer dynamischen Charakteristik, welche einzig aus dem Entwicklungsprinzip der Stufen selbst gewonnen werden kann. Zuerst bestimmt Plessner den Begriff der Stufen selbst „als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird.“12
Der Begriff der Stufe steht darum in einem gewissen Gegensatz zur Idee, die Plessner erläutert als eine „diskontinuierliche Mannigfaltigkeit gegenseitiger Überhöhungen ohne Möglichkeit, von einer Stufe zur nächsten nach einem Prinzip kontinuierlichen Fortgangs zu gelangen.“13
Wir sehen hier den theoretikos am Werk, der mit phänomenologisch geschultem Blick Gegebenheiten erschaut, beschreibt und im Stufenbau dialektisch miteinander vermittelt. Dies ist die Methode der Stufen, mit welcher die „regionale Ontologie des Organischen“14 erschaffen und das Reich des Lebendigen vom Reich des Unbelebten, in dem Stoß und Zug regieren, unterschieden werden soll. Doch sowohl Gegenstand wie Wesen dieser Theorie des Lebendigen bedürfen der weiteren Klärung, um möglichen Missverständnissen mit einer naturwissenschaftlichen Methodologie vorzubeugen.
Von der Naturwissenschaft betrachtete Gegenstände müssen die Eigenschaft der Darstellbarkeit besitzen, damit sie im Fortgang der Erfahrung bestimmbar bleiben. Darstellbarkeit bedeutet jedoch, dass der dargestellte Sachverhalt in einen weiteren Darstellungsmodus übersetzbar sein muss. Appetit ist erlebbar, zur „Darstellung aber wird der Appetit erst durch den Nachweis verstärkter Sekretion des Magensaftes etwa gebracht“15. Für die jedoch durch Anschauung gewonnenen Gegenstände gilt: „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzugehen, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“16
Für die „Wesenseigentümlichkeiten der organischen Natur“17 der biologischen Philosophie Plessners gilt, dass sie zur Klasse der anschauungsmäßig gewonnenen Inhalte gehören. Damit entziehen sie sich jener Darstellbarkeit. Desgleichen können sie weder nach dem Schema der emanatistisch-metaphyischen Logik noch dem der analytischen Logik entwickelt werden, da weder Entitäten noch Begriffe vorgegeben sind, sondern allein der anschauungsmäßig zu gewinnende Sachverhalt18. Es muss die Wirklichkeit dieses Sachverhaltes ermittelt werden: Gegeben sind ein erschauter Sachverhalt wie zum Beispiel die Grenze und das Phänomen der Lebendigkeit. Die Wahrheit der Vereinigung der beiden Auffassungen wird nun dadurch erlangt, dass „in allen Bestimmtheiten des wirklichen physischen Dinges die >Forderungen< der Wesenheit Ganzheit erfüllt sind.“19
Dies ist ein deduktives Verfahren, welches die Erfüllung der Bedingungen der Möglichkeit für einen Sachverhalt prüft.
Eine derartige Deduktion der Kategorien oder Modale – wohlgemerkt nicht aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung, denn den gibt es ja für sich nicht, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner Realisierung – bildet den Zentralteil der Philosophie des Lebens.20
Wenn sich Plessner nach den allgemein methodologischen Überlegungen dem Lebendigen als Gegenstand zuwendet, so beginnt er seine Untersuchung mit den indikatorischen Wesensmerkmalen21, jedoch bloß, um diese gleich wieder einschränkend in ihrer systematischen Stelle und Beweiskraft nach den kategorischen Merkmalen des Lebendigen wie z.B. der Positionalität hintanzustellen. Die Einschränkung bezieht sich vor allem auf den Phänomencharakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit,