Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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Auch mein Vater und seine Geschwister waren als Kinder bei der Grossen Tante in den Ferien gewesen. So war es schon fast selbstverständlich, dass nun auch ich für einige Zeit dorthin geschickt wurde.

      Die Grosse Tante brachte ihre jüngere Stiefschwester Fanny mit in die Ehe. Fanny war seit ihrer Kindheit etwas schwächlich und galt als wenig lebenstüchtig. Zusammen mit Tante Fanny führte die Grosse Tante dort in der grossen Stube – die so gross wie ein Tanzsaal war, wie meine Mutter sagte – ihr Schneideratelier weiter. Später spezialisierten sich die beiden Schneiderinnen auf das Nähen von Trachten. Sie hatten viele Aufträge vom Schweizerischen Heimatwerk. Die Grosse Tante kam oft in die Stadt, um den Kundinnen die Trachten anzuprobieren. Das Mieder mit dem kunstvoll gestickten Latz musste genau sitzen.

      Auf dem Rückweg von einer solchen Anprobe sollte mich die Grosse Tante nun mit sich nehmen. Grossmutter brachte mich zum Schiffsteg, wo die Grosse Tante mich bereits erwartete. Wir fuhren mit dem mächtigen Raddampfer bis zum Anlegesteg in Untermatt. Tante Fanny holte uns dort mit dem alten Leiterwagen ab. Unser ­Gepäck, die anprobierten Trachten und mein kleiner Koffer, wurden aufgeladen, und zu dritt machten wir uns auf den Weg.

      Nun stand ich wieder vor dem altehrwürdigen Haus mit dem langen dunklen Gang und den verwirrend vielen grossen und kleinen Zimmern über mehrere Stockwerke verteilt. Ich kannte das Haus bereits ein wenig, da ich schon früher einmal dort zu Besuch war. Doch dieser Besuch von damals war von einem Ereignis überschattet, welches mich mein ganzes Leben lang verfolgen sollte: Ich galt als ein besonderer Liebling von Tante Fanny. Wenn sie bei uns war, erzählte sie mir immer von ihrer prächtigen Puppe, die sie mir zeigen würde, wenn ich einmal zu ihr auf Besuch käme. Es war eine grosse Puppe mit einem wunderschönen Kopf aus Porzellan. Heute würde sie wohl ein Vermögen kosten.

      An den Anlass des Besuches kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich sehe nur noch, wie Tante Fanny mir diese kostbare Puppe sorgfältig in den Puppenwagen legt. Der Puppenwagen hat hohe Räder. Dann lässt sie mich mit dem Wagen die Strasse entlangfahren, verschwindet im Haus und tritt plötzlich auf der anderen Seite des Hauses wieder zur Türe heraus, wohl um mich zu überraschen. Ihre Überraschung gelingt. Voll Freude, die Tante wieder zu sehen, will ich zu ihr eilen und lasse dabei den Wagen fahren. Dieser streift den Randstein, kippt um und der wunderschöne Porzellankopf zerschellt auf der Strasse …

      Hier habe ich einen Filmriss. Ob ich damals gescholten oder gar bestraft wurde, daran kann ich mich nicht erinnern, aber dieses Missgeschick blieb ein Leben lang an mir haften. Wieder zu Hause bekam ich eine persönlich an mich adressierte Postkarte von Onkel Gottlieb. Auf der Karte befand sich das Porträt eines kleinen Mädchens. Am unteren Rand war mit schwarzer Tinte eine Zeichnung angefügt: Ein Mädchen fährt mit dem Puppenwagen die Treppenstufen runter, ein umgekippter Wagen, Tränen, ein Scherbenhaufen! Ich schämte mich, ärgerte mich jedoch auch, da diese Zeichnung nicht stimmte.

      Auch Tante Fanny sprach bis zu ihrem Tod mit neunzig Jahren von meinem Missgeschick und trauerte um die schöne Puppe.

      Der Grosshaushalt

      Nun war ich also wieder hier in diesem Haus, doch Onkel Gottlieb war nicht mehr da. Er war bereits verstorben, wann und woran, habe ich nicht erfahren. Es wohnten jedoch viele andere Menschen hier. Sie waren alle etwas speziell in ihrer Art. Teils gehörten sie zur Familie, teilweise waren sie Angestellte. Es gab jedoch auch fremde Personen, die nur zur Miete hier wohnten, und im Sommer ­kamen noch Feriengäste dazu. Es gab auch Haustiere, vor allem Katzen.

      Es war ein kinderloses Haus, deshalb hatte ich als kleines Mädchen eine besondere Stellung. Als Plaudertasche brachte ich etwas Abwechslung in den Alltag der Menschen, die hier lebten.

      Johanna war für die Verpflegung zuständig. Neben ihrer Tätigkeit als Köchin oblag ihr die Sorge um den Gemüsegarten. Im Waisenhaus aufgewachsen, kam Johanna als junges Mädchen in das Haus und war zeitlebens der hier ansässigen Herrschaft zu Diensten. Sie gehörte quasi zum Inventar. Johanna war klein und rundlich. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammenge­bunden wie damals die meisten älteren Frauen. Ihr Markenzeichen waren jedoch ihre Sandalen, welche sie jahrein jahraus trug und für die meine Schwestern den Begriff «Johannasandalen» prägten. In Johanna fand ich eine geheime Verbündete, wenn es darum ging, mich vor den frommen und gestrengen Erziehungsprinzipien der Grosstanten in Schutz zu nehmen.

      Das kleine Stübchen neben der Küche war für Onkel Xaver re­ser­viert, ein weisshaariger, knochiger Mann. Er war Junggeselle. Ich fürchtete mich vor ihm, obwohl er mir gegenüber nie unfreundlich, wenn auch sehr wortkarg war. Onkel Xaver wurde von den Frauen im Haus wie ein Gott behandelt. Das Essen wurde ihm durch ein ­Türchen aus der Küche in sein Stübchen gereicht. Ich durfte sein Essgeschirr erst abräumen, wenn er nach dem Mittagsschlaf seine Stube wieder verlassen hatte.

      Während Gottlieb früher als Gutsverwalter amtete, war der Aufgabenbereich von Xaver der Stall gewesen.

      Der jüngere Bruder Chasper war auch auf dem Hof tätig. Onkel Chasper wohnte zusammen mit seiner Frau Luise im oberen Stock. Chasper war von hagerer Gestalt mit einer imposanten Nase. Tante Luise hatte immer ein freundliches Lachen auf ihrem Gesicht. Die beiden erinnerten mich an Chasper und seine Frau aus dem Chasper­letheater. Mit einem aus Karton gebastelten Fotoapparat machte ich immer wieder Schnappschüsse von Tante Luise, wenn sie gerade vorbeiging. Meine selbst verfertigten «Fotografien» belohnte sie mit Süssigkeiten.

      Ganz zuoberst unter dem Dach lebte Frau Coulin. Sie hatte ihr fei­nes schneeweisses Haar kunstvoll zusammengesteckt. Frau ­Coulin sprach Hochdeutsch, trotz ihres französischen Namens. Sie hatte einen sprechenden Papagei und zwei wunderschöne Angorakatzen. Das alles verlieh ihr etwas Exotisches. Sie nannte mich «ihre blauen Augen», warum verstand ich nicht, denn meine Augen waren ja nicht blau, sondern braun. Frau Coulin lud mich hin und wieder zum Tee ein. Ich sollte sie mit meinen Geschichten unterhalten. Bis heute habe ich die Karte von der «Katzenschule» aufbewahrt, welche sie mir zu meiner Einschulung sandte.

      Dann gab es im Erdgeschoss noch das Ehepaar Knirps, zwei kleine kugelrunde Leute, welche einen kleinen Hund besassen, der auch so kugelrund war. Als ich mich einmal nicht wohlfühlte, liess mir Herr Knirps Trauben bringen und beschwor die Grosse Tante, doch einen Arzt kommen zu lassen.

      Alle diese Menschen wohnten dauerhaft in diesem ehrwür­digen Haus.

      Im Sommer kamen noch einige Gäste dazu. Die Grosstanten vermieteten Fremdenzimmer an die Kurgäste. Dann mussten wir zusammenrücken. Tante Fanny hatte nicht mehr ihr eigenes Zimmer und ich nicht mehr mein eigenes Bett, sondern schlief im Gräbchen zwischen den beiden Grosstanten. Die Leute, die da aus ganz Europa kamen, waren noch interessanter als die Dauergäste. Da war der Kapellmeister, der mit dem Metermass kam, um das Bett auszumessen, weil er so gross gewachsen war. Grosstante verfügte als Einzige im Dorf über ein Bett, welches ihm passte. Die Fremdenzimmer ­waren mit Wasserkrug, Waschbecken und einem Nachttopf ausgestattet. Wenn die Gäste enttäuscht nach dem fliessenden Wasser fragten, zeigte Tante Fanny aus dem Fenster auf den See hinaus.

      Im Stiegenhaus war eine Toilette für die Gäste. Wir mussten nach draussen gehen. Die Toilettenhäuschen neben dem Haus sahen aus wie kleine Kapellen. Die Kapelle auf der rechten Seite des Hauses war für die Männer bestimmt, die links für die Frauen. Im Männerklo befand sich eine WC-Schüssel aus weissem Porzellan, im Frauen­häuschen waren zwei hölzerne Plumpsklos nebeneinander aufgestellt. Sie waren wohl für Mutter und Kind gedacht, denn der eine hölzerne Thron war bedeutend niedriger als der andere. Ich wollte nie allein dorthin gehen, da ich fürchtete, ins dunkle Loch hinunterzufallen. Immer wieder erkundigten sich Kurgäste, ob sie die kleinen Kapellen besichtigen dürften. Heute zieren diese beiden Kapellen die Gartenanlage und sind denkmalgeschützt. Es weiss wohl niemand mehr, wozu sie früher dienten.

      Wenn an den warmen Sommertagen die Fremden in schulterfreien Tops und sehr kurzen Shorts – oder auch sonst viel nackte Haut zur Schau stellend – an dem Hause vorbeiflanierten, fühlten sich beide Grosstanten in ihrer «Schneiderinnenehre» – aber mehr noch in ihren sittlichen Gefühlen – verletzt. «Man sollte sie mit Weiderüt­chen zwicken», ereiferte sich die Grosse Tante. Wenn es dann mehrere Tage hintereinander regnete, sahen die Grosstanten darin eine himmlische