Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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Gefahr. Plötzlich musste alles sehr schnell gehen. Der Arzt entschloss sich zu einem Kaiserschnitt. Es wurde sehr kritisch. Die Mutter hatte bereits viel Blut verloren und war sehr schwach. Sie brauchte viele Bluttransfusionen. Unsere ganze Verwandtschaft war an dieser Geburt mitbeteiligt, denn alle Erwach­senen wurden später zum Blutspenden aufgeboten, damit die Klinik ihre Blutkonserven wieder auffüllen konnte.

      Von dieser schweren Geburt erholte sich unsere Mutter nie mehr richtig.

      Und nun war Maria plötzlich wieder da. Die neue Stelle hatte ihr nicht gefallen. Im Winter musste sie frühmorgens bei jedem Wetter mit dem Fahrrad die Brote verteilen. Der ausbezahlte Lohn war auch nicht so hoch wie versprochen. Maria fühlte sich ausgenutzt und vermisste den «Familienanschluss», den sie bei uns sehr intensiv erlebt hatte. Sie fragte, ob sie wieder bei uns arbeiten dürfe. Maria kam wie gerufen, war sie doch in diesem Moment für die Mutter eine grosse Hilfe.

      Ich kam nun in den Kindergarten. Die meisten Kinder waren bereits ein bis zwei Jahre dort, ich jedoch war neu in der Gruppe. Der Kindergarten wurde von Schwester Maria Leo, einer katholischen Nonne, geführt. Sie galt als eine sehr erfahrene Kindergärtnerin. Mehrere Generationen verschiedener Konfession besuchten bei ihr den Kindergarten. Sie konnte sich später noch an alle mit ihrem Namen erinnern. Der Kindergarten war im alten Casino untergebracht – einem ehrwürdigen Gebäude, welches früher einer ortsansässigen Aristokratenfamilie als Winterquartier diente.

      Neben dem einfach gehaltenen Kindergartenraum lagen zwei barocke Ballsäle, wo gelegentlich noch gesellschaftliche Anlässe abge­halten wurden. Diese Räume waren für uns tabu. Schwester Maria Leo beheimatete in dem einen Raum den Sankt Nikolaus und im andern das Christkind. So standen wir das ganze Jahr unter himmlischer Beobachtung. Immer wieder hörten wir Flügel rascheln und wetteiferten untereinander, wer wohl schnell einen Blick auf das vorbeihuschende Christkind erhaschen oder die tiefe Stimme von Sankt Nikolaus vernehmen konnte. Während des ganzen Jahres waren wir bemüht, uns viele goldene Einträge und möglichst wenige schwarze Striche in Nikolaus’ grossem Buch zu verschaffen.

      Im Advent dann kamen die hehren Gestalten leibhaftig – Sankt Nikolaus, begleitet von einem Tross von Engeln – bei uns zu Besuch, und dann wurde abgerechnet. Sankt Nikolaus mit seinem weissen langen Bart war zwar ein milder Mann, der uns glaubwürdig mit feuchten Augen vorspielen konnte, wie traurig ihn unsere Misse­taten stimmten. Er war ein alter Freund meines Grossvaters, wie ich später erfuhr, und er war Sankt Nikolaus aus «Berufung». «Rutscht mir doch alle den Buckel runter», soll er seinen Kollegen einmal zugerufen haben, als sie ihn ärgerten, «in zwei Monaten bin ich wieder der Sankt Nikolaus und der glücklichste Mensch!»

      Die Rückkehr

      Sanatorium

      Der Brief vom Kinderspital mit der Überweisung in die Kinderheilstätte stammt vom 1. Juni 1953. Am 19. Juni wurde unsere kleine Schwester geboren. Einige Tage später, am 27. Juni, war der Eintrittstermin für unseren Bruder ins Sanatorium. Wie haben die Eltern das alles nur geschafft? Ich vermute, dass wieder die Verwandtschaft da war und half.

      Die Kinderheilstätte trug den sinnigen Namen «Heimeli». Wenn ich die Fotos von damals anschaue, sehe ich unsern kleinen Bruder in einer Blumenwiese sitzen, umringt von anderen Buben und Mädchen. «Unsere Kinder reden noch immer von ihm», schrieb Schwester Alice später. Ich habe sie nie kennengelernt, da auch hier nur unsere älteste Schwester zu Besuch durfte. Schwester Alice muss da­mals eine wichtige Bezugsperson für unsern Bruder gewesen sein. Auch später erkundigte sie sich immer wieder nach seinem Wohlbefinden und wie er sich zu Hause wieder eingelebt habe!

      Der Bruder hatte während seiner Krankheit das Sprechen verlernt und musste wieder neu gehen lernen. Die ärztlichen Berichte aus der Heilstätte, welche alle drei Monate zu Hause eintrafen, wurden von uns voll Spannung erwartet und die Bemühungen um den kleinen Sohn vom Vater herzlichst verdankt, erfreut über seine guten Fortschritte und in der Hoffnung, dass er bald gesund und munter in die Familie zurückkehren könne.

      Sept. 53

      Die allgemeine Erholung ist ordentlich. Der Knabe ist ziemlich lebhaft und gut gelaunt. Eine Fortsetzung der Kur für weitere 3 Mt. ist unbedingt angezeigt.

      Dez. 53

      Die «geistige» Entwicklung ist befriedigend, er beginnt zu ­sprechen, allerdings noch undeutlich. Aufgrund des Röntgen­befundes und mit Rücksicht auf die durchgemachte Meningitis und die Jahreszeit ist die Fortsetzung der Kur unbedingt ­angezeigt. Wir haben um eine Kurbewilligung von weiteren 3 Monaten ersucht.

      März 54

      Der linke Hilus (Lunge) ist noch deutlich verbreitert, partien­weise etwas dicht. In seinen «geistigen» Funktionen macht der Knabe befriedigende Fortschritte. Eine weitere Fortsetzung der Kur ist unbedingt angezeigt. Wir ersuchen um Kurbewilligung für weitere 3 Mt. …

      Schlussendlich war der Bruder ein ganzes Jahr in der Heilstätte. Mit zweieinhalb Jahren wurde er krank. Mit viereinhalb Jahren kehrte er «körperlich geheilt zurück, dank neuzeitlichen Heilmitteln», wie es im Austrittsbericht heisst.

      Ein anderer Bruder

      Inzwischen war ich in der ersten Klasse. Ich lernte Lesen und Schreiben und entwickelte eine rege Schreibtätigkeit. Was ich früher zeichnend verarbeitete, tat ich nun schreibend. Ich verlangte bei der Lehre­rin nach Papier und blieb freiwillig länger in der Schule, um meine kleinen Aufsätze zu schreiben. Die Lehrerin nannte mich «Blättli­schluckerin». Sie korrigierte jeweils meine Texte und strich die Fehler mit roter Tinte an. Als nun fast das ganze Blatt rot angestrichen war, befand sie, ich würde besser etwas abschreiben, als eigene Geschichten voller Fehler zu schreiben. So wurde meiner Schreib- und Fabulierlust ein Ende gesetzt.

      Ich war nun bald anderweitig beschäftigt, denn als ich eines ­Tages von der Schule heimkam, hatte die Mutter Matratze, Decken und Kissen zum Sonnen über die Teppichstange gehängt.

      «Wir können am Sonntag den Bruder abholen.»

      Die Sonne beschien das Bettzeug, als wollte sie meinem Bruder als Vorschuss etwas Wärme bringen.

      «Kommt er nun für immer nach Hause?»

      Wir beiden konnten damals nicht ahnen, wie oft der Bruder noch von zu Hause fortgehen musste.

      Beim Austrittsgespräch sagte der Arzt meinen Eltern, ihr Sohn würde sehr viel Liebe benötigen. «Wohl wird es kaum einen Stu­dier­ten aus ihm geben, aber es müssen ja nicht alle studieren.» Das war alles, was meinen Eltern als Aufklärung über die durch die Krankheit hinterlassenen Schäden ihres Sohnes mit auf den Weg gegeben wurde. «Mach’ dass er brav studiert. Belohn damit sein Streben, dass einst berühmt er wird», dieser Geburtswunsch aus der Feder des Wiener Künstlers musste somit schon früh begraben werden.

      Ich war voller Freude, dass der Bruder nun wieder bei uns war und ich einen Spielgefährten hatte. Das Schwesterchen war einfach noch zu klein für meine Spiele.

      Mein Bruder machte jedoch wenig her als Spielpartner:

      Ich hatte die Kiste mit den Bauklötzen auf den Boden geleert und wollte mit meinem Bruder zusammen etwas bauen. Er war jedoch nicht am Bauen interessiert, sondern nahm zwei Holzklötze und schlug sie einfach nur gegeneinander. Er wusste wohl nichts Besseres damit anzufangen. Ich nahm ihm die Klötzchen aus der Hand und wollte ihm zeigen, was man alles damit machen konnte. Sogleich fiel er über mich her. Seine Finger griffen nach meinen Haaren und zerrten so fest, dass ich zu weinen begann. Mama eilte herbei, um mich zu befreien. Das war nicht einfach, denn seine Finger waren so fest in meine Haare verkrallt! Voll Entsetzten sah ich, wie er ganze Haar­büschel in seinen Händen hielt, meine Haare! Ich konnte nicht verste­hen, warum er denn so böse wurde. Ich wollte ihm ja nur helfen.

      Solche Anfälle traten immer wieder auf. Oft wusste ich kaum, wie ich mich nachts hinlegen sollte, da mich der Kopf so schmerzte, wenn der Bruder sich wieder an meinen Haaren vergriffen hatte.

      Auch das kleine Schwesterchen bekam seinen Teil ab. Für den Bruder gehörte es nicht in diese Familie. Er hatte es ja vorher