Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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alles begann

      Im Herbst hustete unser Bruder so stark, dass er fast keine Luft mehr bekam und ganz blau wurde. «Keuchhusten», sagte diesmal der herbeigerufene Arzt. Meine beiden älteren Schwestern waren bereits als Kleinkinder mit dem Keuchhusten angesteckt worden, ich wurde bis jetzt davon verschont. Zum Ausheilen des Keuchhustens – vielleicht auch, um mich vor einer Ansteckung zu schützen – verreiste Mama mit unserem Bruder in die gesunde Bergluft. Es gab einen Ort in der Innerschweiz, mit dem unsere Familie mehrfach verbunden war. Vorfahren mütterlicherseits stammten aus diesem Tal. In diesem Tal hatte unsere Mutter als Zwanzigjährige Ferienlager für eine Mädchenjugendgruppe geleitet und kam so wieder in Verbindung mit ihren Wurzeln.

      Ganz hinten im wilden Tal war die ganzjährig bewohnte Alp Grattigen. Unsere Familie übersommerte hier oft. Wir Kinder fühlten uns wie Heidi, tranken die frische Ziegenmilch, welche der Senn Stini direkt ab Euter in unsere Tassen füllte, und schauten ihm beim Käsemachen zu. Hinter der Alphütte floss ein kleiner Bach vorbei, der sich vorzüglich zum Kühlen der frischen Milch eignete, aber auch zum Spielen. Gelegentlich fielen wir samt den Kleidern ins kalte Wasser oder zogen mindestens einen nassen Schuh heraus. Auf der Vorderen Egg lebte ein Ehepaar, von allen nur Sophie und Gusti ­genannt. Auch sie gehörten zur weitverzweigten Verwandtschaft ­mütterlicherseits. Die beiden hatten keine eigenen Kinder. Unzählige, oft schwächliche oder gesundheitlich angeschlagene Kinder und Erwachsene haben in ihrem Haus Aufnahme gefunden und sind wieder kräftig und gesund in ihre Familien zurückgekehrt. Bei ihnen sollte nun auch unser Bruder gesunden.

      Wieder war es Maria, die während der Abwesenheit der Mutter zu uns schaute. Sie wurde dabei von der Grossmutter unterstützt. Es war Herbst geworden, als uns Grossmama sagte, Mama werde mit unserem Bruder noch heute Abend zurückkommen. Der Bruder hatte oben in den Bergen plötzlich hohes Fieber gekriegt. Onkel Emil werde die beiden abholen. Onkel Emil war der Einzige unserer Sippschaft, der – dank seines Berufs als Chauffeur – Auto fahren konnte. Wir warteten ungeduldig, doch Mama und der Bruder waren noch nicht da, als wir ins Bett geschickt wurden.

      Die grosse Aufregung

      Es war nach Mitternacht, als Mama heimkam – allein, ohne unseren Bruder. Der Kinderarzt veranlasste noch spätabends eine Überweisung ins Kinderspital der nächstgelegenen Universitätsklinik, eine Stunde von unserem Wohnort entfernt. Der Zustand sei sehr ernst. Diesmal hatte der Bruder eine schlimme, eine ansteckende Krankheit. Es war die tuberkulöse Hirnhautentzündung oder Meningitis, wie der medizinische Fachausdruck hiess. Später erfuhr ich, dass diese Krankheit damals fast immer tödlich endete. Die Eltern mussten sich zuerst informieren, was diese Diagnose bedeutete. In den von den Eltern angelegten Krankenakten fand ich einen mit Bleistift geschriebenen Vermerk, vermutlich eine Abschrift der Mutter aus einem Lexikon.

      Tuberkulöse Hirnhautentzündung (Meningitis), sog. Basal­meningitis, ist eine infektiöse Entzündung der Hirnhäute, die im Sekundärstadium der Tuberkulose auftreten kann, fast stets auf dem Blutweg über Lungen, Knochen oder Gelenke ­infiziert. Typischerweise sind die basalen Hirnbereiche betroffen, Vorkommen besonders bei Kindern und Jugendlichen.

      Woher kamen diese Krankheitskeime? Unsere ganze Familie wurde untersucht, ob auch wir infiziert waren. Gott sei Dank waren wir ­Geschwister gesund. Wir mussten der Reihe nach antreten und wurden alle geimpft. Aber wer war es denn, der diese perfide Krankheit in sich trug? Wie war es mit den Erwachsenen? Das ganze Umfeld war verdächtig. Mutter und Vater waren in jungen Jahren beide an Tuberkulose erkrankt gewesen, galten aber als geheilt. Der Vater war im Lungensanatorium in Davos, wo Thomas Mann sich für seinen «Zauberberg» inspirieren liess. Er erzählte uns, wie er für die Ge­­­­­wichtskontrolle die Hosentaschen mit Fünffrankenstücken ­füllte, damit ihm der wöchentliche Ausgang nicht verwehrt wurde. Auch die Mutter musste als Jugendliche in Kur. Sie erinnerte sich an die langweiligen Liegekuren, die sie sich verbotenerweise durch unter der Decke verstecktes Stricken oder Lesen etwas erträglicher gestaltete.

      Es war wohl der Patenonkel, der vermutlich unseren Bruder angesteckt hatte. Er amtete damals als Pfarrhelfer in einer Pfarrei auf dem Lande und musste in dieser Zeit öfter in die Stadt zum Arzt. Dann schaute er immer auch nach seinem Göttibuben. Als bei unserem Bruder die Krankheit ausbrach, war der Onkel bereits mit einer Lungentuberkulose im Sanatorium.

      Eines Morgens war wieder nur Maria da, die uns weckte und uns die Butterbrote strich. Die Eltern waren in der Nacht ins Spital gerufen worden, weil es unserem Bruder sehr schlecht ging. Als die Eltern dort eintrafen, war er bereits zum Sterben in eine Abstellkammer gestellt worden. Wir wurden angehalten, für unseren Bruder zu beten. Am Abend gab es Entwarnung. Das Fieber war gesunken, und der Bruder hatte überlebt. Er sei aber noch nicht über den Berg. Wir beteten weiter.

      Traurige Weihnachten

      Unsere Eltern fuhren oft ins Spital, um nach ihrem Söhnchen zu schauen. Nur die älteste Schwester durfte mitgehen, Kindern unter zehn Jahren wurde der Eintritt in die Kinderabteilung verwehrt. Da ich meinen kleinen Bruder nicht besuchen durfte, machte ich viele Zeichnungen für ihn. Mama erzählte mir, wie seine Augen leuch­teten, wenn sie von mir sprach. Er hatte mich nicht vergessen. Das freute mich, machte mich aber zugleich auch traurig. Er fehlte mir als Spielgefährte so sehr!

      Es wurde Weihnachten, doch der Bruder durfte nicht nach Hause kommen. Welche Enttäuschung, dass mir das Christkind meinen grössten Wunsch nicht erfüllte.

      Wir drei Schwestern waren für den Heiligen Abend feierlich gekleidet mit den weiss durchscheinenden, mit Blümchen bestickten Schürzchen, die wir nur an Weihnachten tragen durften, so wie schon Mama und ihre Schwestern, als sie noch Kinder waren. – Letzthin habe ich im Historischen Museum genau solch ein weisses Schürzchen entdeckt. Unsere Festtagskleidung von damals ist museumsreif geworden!

      Wir konnten es kaum erwarten, bis das Glöckchen klingelte und sich wie von Geisterhand die Türe zur guten Stube öffnete. – Und da stand er nun, der glanzvoll geschmückte Christbaum mit den brennen­den Kerzen, farbigen Kugeln, glitzernden Tannzapfen sowie allerlei Krimskrams aus Schokolade. Der ganze Baum war mit Silberla­metta überhangen. Oben auf der Spitze thronte ein buntes Vögelchen, der einzige Weihnachtswunsch der zweiten Schwester. Neben unseren Geschenken lag ein leuchtend rotes Auto, welches man mit einem Schlüssel aufziehen konnte. Das Christkind hatte unseren Bruder doch nicht ganz vergessen.

      Die Eltern brachten das Geschenk am Weihnachtstag ins Spital. Wir warteten ungeduldig auf ihre Heimkehr und die Neuigkeiten, die sie zu erzählen wussten. Der Bruder habe das rote Auto fest an sich gepresst und wollte es nicht mehr aus der Hand geben, auch nicht, um sein Zvieri zu essen. In der Infektionsabteilung, wo unser Bruder hospitalisiert war, musste das Spielzeug allabendlich desinfiziert werden. Es war jedoch für das Personal zu mühsam, den Kindern immer wieder ihr eigenes Spielzeug zurückzugeben. Deshalb wollte der Bruder nicht von seinem neuen Auto lassen. Er wusste, dass es ihm weggenommen und er es vielleicht nie mehr wiedersehen würde.

      Noch jemand hatte unsern Bruder an Weihnacht nicht vergessen. In den Krankenakten fand ich eine Weihnachtskarte mit dem Bild eines kitschig süssen Christkinds, welches zum Fenster hereinfliegt und dem schlafenden Kind einen kleinen Weihnachtsbaum bringt. Der Sektionspräsident der Krankenkasse schrieb anstelle des Christkinds. Die Vorstellung, dass sich ein Sektionspräsident der Krankenkasse persönlich an die Schreibmaschine setzte und nach Worten suchte, berührt mich. Oder war es seine Sekretärin?

      Weihnacht 1952

      Dieses Jahr feierst du Weihnachten, dieses traute und schöne Fest des Christkindleins fern Deiner lieben Eltern und Ange­hörigen. Doch in Gedanken bist du sicher auch bei deinen Lieben zu Hause, so wie deine liebe Mutter und dein lieber Vater im Geiste das liebliche Weihnachtsfest bei Dir und mit Dir feiern. Aber auch das liebe Christkind hat Dich nicht vergessen. Ganz im Gegenteil. Es weilt unsichtbar unter Euch und nimmt sich ganz besonders der kleinen kranken Kinder an.

       Dass das neue Jahr Dir die völlige Genesung und die ersehnte Heimkehr zu den lieben Angehörigen bringen möge, das wünscht dir von Herzen Namens des Sektionsvorstandes:

      Der Präsident

      Das