Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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«Als deine Eltern damals nach Rom verreisten, bist du ihnen nachgelaufen und hast so gezwängelt, dass ich dich packte und in die Toilette einschloss. Ich sagte dir, dass du erst wieder rauskommen dürftest, wenn du aufgehört hast zu heulen. – Du hast nachher nie mehr nach deiner Mutter gefragt.» Es scheint mir, als ob ich einen kleinen Triumph in ihrer Stimme höre – ein Triumph, dass ich nicht mehr nach meiner Mutter fragte?

      Ich musste mit ansehen, wie meine Eltern weggingen. Mein Einwand, dass ich darüber wohl verzweifelt war, macht sie ratlos. «Was hätte ich denn sonst tun können? – In der Ausbildung wurde uns verboten, Kinder zu schlagen, Freiheitsberaubung hingegen war erlaubt.»

      Tante Gret ist die einzige Schwester des Vaters. Sie war in der prestigeträchtigen Pouponnière in Genf als Nurse zur Kinderbetreuung in vornehmen Familien ausgebildet worden. Solche Stellen gab es aber vor allem im Ausland. So wurde sie von ihrer Ausbildungsstätte nach Frankreich an adlige Familien vermittelt. Es war ihre Aufgabe, kleine «Prinzen» aufzuziehen und zu erziehen. Ich erinnere mich an Erzählungen von alten Schlössern mit gigantischen Waffensälen und furchteinflössenden Fledermäusen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, kehrte Tante Gret in die Schweiz zurück.

      Plötzlich waren die Eltern wieder da. Sie waren in Rom gewesen und hatten den Papst besucht. So hatte man es mir erzählt. Das musste etwas ganz Besonderes gewesen sein, das war augenscheinlich. Im Elternschlafzimmer hing von nun an ein grosses Foto mit einem streng dreinblickenden Mann an der Wand. Es war Pius XII. Es gibt von damals auch ein Foto einer grossen Reisegruppe vor dem Petersdom. Wenn man ganz genau hinschaut, sind auch Mama und Papa darauf zu sehen, Mama in der Landestracht, daneben ein freundlich dreinblickender älterer Mann mit Bart und Glatze, Mamas Vater. Er war früher Chefbeamter bei der Bahn und organisierte nach seiner Pensionierung Pilgerzüge nach Rom und auch nach Lourdes. Nach Lourdes wollte die Mutter ihn nie begleiten. Diese Art von Frömmigkeit mochte sie nicht, vor allem das Rosenkranzbeten war ihr zu langweilig.

      Nach ihrer Heimkehr war Mama oft müde und musste viel liegen. Unter dem Bild des Papstes im Elternschlafzimmer stand auf einmal mein Kinderbettchen. Wir Mädchen schliefen zu dritt in einem Zimmer. Für mich wurde dort nun ein anderes Bett hineingestellt. Es stammte aus Mutters Familie und hatte bereits Kinder mehrerer Generationen in ihre Traumwelten begleitet.

      Wenn wir abends schnell im Bett waren, so setzte sich Mama zu uns und las noch etwas vor. Wie liebten wir die Geschichte von Heidi und dem Alpöhi! Bis heute gilt für mich das kleine Mädchen mit dem schwarzen Kraushaar aus dem damals bekannten Silva-Band, den man durch Punktesammeln erwerben konnte, als das richtige Heidi. Spätere Bilder und Filme konnten nicht an diesem Bild des Ur-Heidis rütteln.

      Das Leben auf der Alp war uns Kindern vertraut, verbrachten wir doch manchen Sommer in den Bergen. Wir amüsierten uns köstlich, wie dämlich sich die gestrenge Erzieherin Rottenmeier aus Frankfurt auf der Alp anstellte.

      Die Bilder von den finster dreinblickenden «Hottentotten» – imaginären Gestalten aus der Zeit der schwarzen Pädagogik, welche den Geissenpeter zum Lesenlernen anspornen sollten – verfolgten mich bis in die Träume.

      Auch Madam Rottenmeier liess mich nicht mehr los – sie, die davon überzeugt war, dass man bei Heidi «in jedem Punkt der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang beginnen müsse», war selbst jedoch vom Alltag in Heidis Bergen total überfordert. So kam es, dass ich später als Erwachsene den Begriff «Madam-Rottenmeier-Syndrom» kreierte. Er meint die hehren Bemühungen einer Erziehungsperson, Kindern aus ihr fremden Lebenswelten das «richtige Verhalten» beizubringen, ohne dabei zu erkennen, welch reichen Erfahrungsschatz diese Kinder aus ihrem früheren Leben mitbringen.

      Vor allem aber erinnere ich mich an die Geschichte von der «Familie Pfäffling», eine tugendhafte, kinderreiche, deutsche Familie. Die Geldsorgen: Es mussten sieben Mäuler gestopft werden, Krankheiten: Eines der Kinder drohte durch eine Ohrenentzündung taub zu werden – aber auch, wie die Festtage wie Weihnachten gefeiert wurden, all das kam mir aus unserem Leben so bekannt vor. Mit dieser Familie konnte ich mich identifizieren. Insbesondere dem kleinen Elschen fühlte ich mich verbunden, welches für viele Aktivi­täten der älteren Geschwister noch zu klein war und stillhalten musste, während diese ihre Hausaufgaben machten.

      Später las uns die Mutter keine Geschichten mehr vor. Es blieb keine Zeit mehr dazu.

      Unsere Grossfamilie

      Wir lebten in einem alten Haus, das Platz für mehrere Familien bot. Das Haus lag am Stadtrand neben einem kleinen Wald. Unser Grossvater väterlicherseits kaufte dieses Haus in den Zwanzigerjahren. Grossmutter erfuhr erst davon, als der Handel perfekt war. Dann zog Grossvater mit seiner Familie dort ein. Zur Familie gehörten neben der Grossmutter fünf Kinder, vier Buben und ein Mädchen, die Tante Gret.

      Unser Vater war der älteste Sohn. Er wurde nach seinem Vater getauft und trug seinen Vornamen bereits in der dritten Generation.

      Der zweite Sohn, Josef, verstarb schon im Jugendalter an der Spanischen Grippe. Er klagte über Unwohlsein und war einige Tage bettlägerig. Dann habe er sich plötzlich an den Kopf zu schlagen ­begonnen und vor Schmerzen aufgeschrien, erzählte mir die Tante. Als der Doktor kam, war der Junge bereits tot. Später erfuhr ich von meinem Vater, dass sein Bruder einige Tage zuvor beim Schlittschuhlaufen auf den Hinterkopf gestürzt sei und für kurze Zeit bewusstlos war. Die Geschwister hatten sich jedoch nicht getraut, zu Hause etwas davon zu erzählen. War es vielleicht gar nicht die Spanische Grippe, sondern eine Gehirnblutung, welche den Bruder umbrachte? Ich frage mich, wie die Brüder – vor allem mein Vater als Ältester – dieses Wissen und vielleicht auch die Schuldgefühle so viele Jahre mit sich herumtragen konnten. Der verstorbene Bruder hätte Missionar werden wollen. Die beiden jüngeren Brüder wurden später zu katholischen Priestern geweiht.

      Grossmutter trug seit dieser Zeit nur noch Schwarz. Wenn sie von ihrem verstorbenen Sohn sprach, so sagte sie immer Josefli «selig». Da sie auch von ihrer früh verstorbenen Schwester vom Bethli ­«selig» sprach, meinte ich, «Selig» sei ein Familienname und die «Seligs» eine befreundete Familie.

      Seit dem Tod von Josefli war Grossmutter ängstlich um die Gesundheit ihrer drei anderen Söhne besorgt, wohl nicht ganz unbegründet, wie sich später herausstellte.

      Tante Gret nahm als einziges Mädchen unter vier Brüdern eine besondere Stellung ein – jedoch nicht etwa eine bevorzugte, ganz im Gegenteil –, wie sie mir einmal erzählte. Obwohl das wildeste der Kinder, wurde sie von der Mutter angehalten, im Haushalt zu helfen oder Handarbeiten zu machen, so wie es sich für ein Mädchen gehörte. Währenddessen konnten ihre Brüder draussen herumtollen. Von diesen bekam sie immer wieder zu spüren, dass Mädchen minderwertig seien. Frauen würden nicht in den Himmel kommen, prophezeiten sie ihr. Später relativierten sie, die Frauen müssten sich jedoch sehr anstrengen, um dorthin zu gelangen. Es war der Kaplan, der den Jungen im geschwisterlichen Streit Schützenhilfe bot, wenn er sich von der Kanzel herab über die immer heulenden Mädchen lustig machte und sich theatralisch mit dem Zipfel seines Chorrocks über die Augen fuhr. Diese Erfahrungen mögen mit ein Grund gewesen sein, dass Tante Gret nie heiratete.

      Kurz vor meiner Geburt übersiedelten unsere Eltern ins väterliche Elternhaus. Das war nicht so geplant gewesen. Nach ihrer Hochzeit beabsichtigte das junge Paar, eigenständig zu leben. Es mietete seine erste Wohnung in sicherer Distanz zu den beiden Herkunfts­familien. Hier kamen meine beiden älteren Schwestern zur Welt. Es war aber damals in den Kriegsjahren schwierig, eine passende und zahlbare Wohnung für die grösser werdende Familie zu finden. Dazu gab es Probleme mit dem Vermieter. So waren die Eltern schlussendlich doch froh, dass ihnen im väterlichen Haus Unterschlupf ­gewährt wurde. Ich war ein Jahr alt, als der Grossvater starb. Unsere Grossmutter lebte danach allein im Erdgeschoss. Als Tante Gret für einige Zeit krank war, wohnte sie wieder bei der Grossmutter. Wohl, weil Tante Gret keine eigenen Kinder hatte, betrachtete sie uns auch ein wenig als die ihren, für deren Erziehung sie sich mitverantwortlich fühlte. Als ausgebildete Kinderschwester war sie dafür geradezu prädestiniert. So kam es, dass sie gelegentlich erzieherisch übergriffig wurde, was meine Mutter stillschweigend hinnahm, obwohl sie sehr darunter litt.

      Im Untergeschoss des Hauses wohnte