Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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war. Von ihm erfuhren sie von dem vermissten Buben. Auf dem Heimweg fiel ­ihnen dann ein kleiner Junge auf, der bei einbrechender Dunkelheit ganz allein über die lange Eisenbahnbrücke schlenderte. Als sie ihn ansprachen, wollte er davonrennen. Er war jedoch zu müde nach dieser langen Wanderung und liess sich widerstandslos auf eines der Fahrräder hieven und nach Hause chauffieren, die volle Einkaufs­tasche fest an sich gedrückt.

      Da der Bruder immer so abgehetzt nach Hause zurückkehrte, hatte die Mutter diesmal zu ihm gesagt, er müsse sich nicht so beei­len, er könne schön spazieren. Das hatte er offensichtlich zu wörtlich ­genommen. In der Stadt fand gerade der internationale Rotary-­Kongress statt, und die Strassen waren beflaggt. Der Bruder mochte die Fahnen gerne. Er war diesen Fahnen kilometerweit bis ans ­andere Ende der Stadt gefolgt.

      Im Kindergarten

      Nach einem weiteren Kuraufenthalt war es nun höchste Zeit, dass der Bruder mehr Förderung und Beschäftigung erhielt. Er war inzwi­schen sieben Jahre alt geworden.

      Schwester Maria Leo, bei der wir drei älteren Mädchen den Kindergarten besuchten, war bereit, unseren Bruder bei sich aufzunehmen. Sie bereitete die anderen Kinder darauf vor, dass nun ein spezieller Junge in ihre Gruppe komme, der sehr krank gewesen sei, und dass die Kinder besonders lieb zu ihm sein sollten. Die Kinder nahmen sich diese Aufforderung sehr zu Herzen und ertrugen mit grosser Toleranz seine unberechenbaren Stimmungen, auch wenn sie manchmal im wörtlichen Sinn etwas «Haare lassen» mussten.

      Die ersten Tage wurde der Bruder von zwei Mädchen liebevoll nach Hause begleitet. Bald hatte es sich herumgesprochen, dass es bei uns Kekse oder etwas Schokolade gab. So gesellten sich täglich immer mehr zur Begleitgruppe und die Kinder blieben so lange vor der Türe stehen, bis alle ihre kleine Belohnung erhalten hatten.

      Leider musste sich Schwester Maria Leo einer Operation unterziehen und fiel für längere Zeit aus. Ihre Stellvertretung, eine ältere Schwester, liess schon bald ausrichten, dass der Umgang mit unserem Bruder zu sehr an ihren Kräften zehre, und bat unsere Mutter, ihren Sohn nicht mehr in den Kindergarten zu schicken. So war unser Bruder wieder zu Hause bis zur Schaffung des ersten öffentlichen heilpädagogischen Kindergartens vor Ort. Es war – aus der Not geboren – der erste «inklusive» Kindergarten, und zwar in umge­kehrter Verteilung! Es wurden nichtbehinderte Kinder in einen Normalkindergarten integriert oder inkludiert, sondern normale Kinder in einen heilpädagogischen Kindergarten! In einer neuen Über­bauung, der ersten Hochhaussiedlung der Stadt, waren zwei Kindergärten geplant. Im unteren Stock war der Quartierkindergarten einquartiert, darüber sollte der erste heilpädagogische Kindergarten eröffnet werden. Da es im Quartierkindergarten überzählige Kinder gab, im heilpädagogischen Kindergarten hingegen noch Plätze frei waren, so wurden im heilpädagogischen Kindergarten auch Kinder aus dem Quartier aufgenommen.

      Unsere Mutter konnte aushandeln, dass die kleine Schwester, welche noch nicht das offizielle Kindergartenalter erreicht hatte, frühzeitig eintreten konnte, und zwar in den heilpädagogischen Kindergarten. Somit war das Problem der Begleitung des Bruders für die Familie gelöst.

      Aber ganz so problemlos war es doch nicht. Die beiden äusserten plötzlich Ängste, in den Kindergarten zu gehen. Sie erzählten mir, dass sie auf dem Nachhauseweg von zwei älteren Kindern, bedroht und auch geschlagen wurden. Am nächsten Tag kam ich gerade dazu und sah, wie sich ein Mädchen und ein Junge anschickten, meine Ge­schwister zu quälen. Das Mädchen kannte ich aus der Gymnastikgruppe. Dass es sich bei den ­Angreifern ebenfalls um ein Geschwisterpaar handelte, liessen ihre rotfarbigen Haarschöpfe und Sommersprossen vermuten. Bevor ich die beiden Quälgeister ansprechen konnte, ergriffen sie die Flucht. Zu jener Zeit waren rote Haare verpönt, rothaarige Kinder wurden gemobbt und waren oft Zielscheibe von Spott. Die beiden Rabauken hatten vermutlich von der Situation profitiert, sich einmal in der Rolle der Stärkeren zu fühlen und etwas von ihren Schmähungen zurückzahlen zu können.

      Nach meiner Intervention war Ruhe. Bruder und Schwester besuchten während eines Jahres den heilpädagogischen Kindergarten.

      Schwester Maria Leo war inzwischen wieder genesen und die kleine Schwester durfte nun den Kindergarten im alten Casino besuchen – dort wo Sankt Nikolaus und das Christkind zu Hause waren. Für den Bruder, der nun bereits neun Jahre alt geworden war, gab es im Kindergarten kein Bleiberecht mehr …

Schulzeit 1959–1963

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