Mein Bruder und ich sassen in der Küche beim Frühstück. Sophie schenkte uns aus dem grossen Milchkrug mit den blauen Tupfen Ziegenmilch ein, röstete Brotschnitten am offenen Herdfeuer und bestrich sie dann mit frischer Butter. Dann schnitt sie uns ein grosses Stück vom Käse ab. Wir sollten hier wieder zu Kräften kommen. Es war ein wenig wie beim Alpöhi. Der Bruder schaute nachdenklich zur Bergkette hinauf, welche in der Morgensonne rötlich leuchtete. Dann sagte er: «En Isebahn – was macht de Ma det obe?»
Sophie freute sich über diese kreative Beobachtung. Ich erzählte ihr voll Stolz, was mein Bruder sonst noch alles wisse. Mit meinen acht Jahren sprach ich schon wie eine Expertin.
«Du darfst nicht heiraten, denn du musst später einmal zu deinem Bruder schauen, wenn eure Mutter nicht mehr da ist.»
Diese Worte von Sophie blieben an mir haften. Warum durfte ich nicht über mein eigenes Leben bestimmen? Obwohl ich bis anhin nicht ans Heiraten dachte, so sammelten wir Schwestern eifrig für unsere Aussteuer. Es waren hübsche Porzellantässchen mit kleinen Fehlern, welche uns die alte Frau Heggli aus ihrem Geschirrladen für unsere Sammlung überliess. Ich stellte mir immer vor, Kinder zu haben. Aber ich dachte mir, dass ich diese adoptieren würde. Das schien mir einfacher, als selbst Kinder auf die Welt zu bringen. Dass das Kinderkriegen nicht so einfach und gefahrenlos war, hatte ich ja bei unserer Mutter erlebt. Und wozu brauchte es denn einen Mann?
Vermutlich hatte ich durch die Erfahrungen mit meinem einzigen Bruder ein etwas – sagen wir einmal – besonderes Verhältnis zu Buben oder Jungen. So war es dann auch, als ein paar Tage später Wisi auf der Egg auftauchte. Wisi kam von unten aus dem Tal. Er war gerade aus der Schulpflicht entlassen worden. Nun sollte er den Winter über Gusti im Stall helfen, denn die Tiere waren von der Sömmerung zurück. Wisi war ein braver, arbeitsamer Bursche. Vielleicht war es, weil ich keinen Bruder zum Streiten hatte und ich mich vor den fremden Buben fürchtete, dass ich es nun nicht lassen konnte, Wisi zu necken und ihm Streiche zu spielen.
Es war ein sternenklarer, aber eisig kalter Abend. Die Hemden, welche Sophie draussen zum Trocknen aufgehängt hatte, waren so steif gefroren, dass man sie auf den Boden stellen konnte. Sophie schimpfte beim Einsammeln der Wäsche unablässig über das «Mannevolch», welches zu nichts nutze sei. Die Wettervorhersage von Gusti hatte sich als falsch erwiesen.
Am andern Morgen glitzerten die Berge in weisser Pracht. Über Nacht war der Winter eingebrochen und brachte mehr als einen halben Meter Neuschnee.
Mein Bruder und ich tummelten uns im Schnee vor dem Haus. Auf einmal liess sich der Bruder den Abhang hinunterrollen. Er rollte und rollte. Ich sah die Gefahr. Doch wie verzweifelt ich ihm auch zurief, er liess sich nicht aufhalten und rollte weiter und weiter, bis er endlich von einem kleinen Tännchen gestoppt wurde. Sein Gesicht war mit Schnee verklebt. Handschuhe und Mütze hatte er verloren. Er war völlig aufgelöst und heulte. Mühsam stapfte ich durch den tiefen Schnee. Ich kam aber nur langsam vorwärts, weil ich immer wieder einsank. Endlich konnte ich dem Bruder meine Hand reichen. Seine war eiskalt. Doch wir schafften es nicht, den Berg wieder hinaufzuklettern. Der Schnee war zu tief, und der Bruder lamentierte und schlug um sich.
Da trat Wisi aus dem Stall. Er erkannte gleich unsere prekäre Situation. Trittsicher stieg der Bauernbub zu uns hinab, und gemeinsam brachten wir den Bruder den Hang hinauf.
Von oben war das Gezänk von Sophie zu hören, da ihr Mann keine Anstalten machte, uns zu Hilfe zu eilen. Gusti schwieg beharrlich und rührte sich nicht. Gebannt schaute er den Hügel hinunter und behielt die Situation im Auge, damit er im Notfall hätte Alarm schlagen können, wie er uns später gestand. Er hatte nämlich befürchtet, dass der ganze Hang ins Rutschen komme und uns unter dem Schnee begraben würde.
Die Jacke des Bruders war voll von Schnee, der inzwischen gefroren war. Seine Stiefel konnte Sophie erst ausziehen, nachdem sie warmes Wasser hineingeschüttet hatte. Der Bruder wurde mit einer Wärmeflasche ins Bett geschickt. Ich blieb bei ihm. Ich fühlte mich schuldig, da ich auf ihn zu wenig aufgepasst hatte.
Kürzlich las ich in der Zeitung einen Nachruf über den «Tannliwisi». Ich bemerkte sogleich, dass es sich um den Wisi von damals handelte. Er war der älteste Sohn einer armen kinderreichen Familie und musste gleich nach dem Schulabschluss arbeiten gehen, um die Familie ernähren zu helfen. So kam er als vierzehnjähriger Junge auf die Egg. Er blieb sein Leben lang Knecht. Wisi heiratete nie. Später wurde er wegen seines Hobbys, der Aufzucht von Christbäumen, als «Tannliwisi» bekannt. Wie bin ich ihm dankbar, dass er uns damals gerettet hat.
Anfang Dezember wurden mein Bruder und ich von der Alp geholt. Ich drängte darauf, wieder in die Schule zu gehen. Als ich am ersten Schultag nochmals einen starken Hustenanfall hatte, wollte mich die Lehrerin sogleich nach Hause schicken. Ich hatte in der Schule einiges verpasst. Im Schlusszeugnis stand, dass ich im zweiten Schuljahr neunundsechzig Halbtage gefehlt hatte.
Ich war immer gut im Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten. Darum versprach mir unsere Lehrerin bereits in der ersten Klasse eine grosse Rolle, wenn sie mit uns in der zweiten Klasse ein Krippenspiel aufführen würde. Als ich nun wieder zurück in die Schule kam, waren alle Rollen bereits vergeben. Ich musste die Hefte nachführen und seitenweise Texte abschreiben, während die andern probten. Bei der Aufführung war ich die Einzige, die keine Aufgabe hatte. Die Lehrerin hatte ihr Versprechen nicht gehalten und mich einfach vergessen.
Von uns Schwestern umsorgt
Mit dem Bruder unterwegs
Unsere Aufgabe als Kindermädchen unseres Bruders wurde ja bereits in den Gratulationsschreiben zu seiner Geburt bestimmt. Nun kam noch das kleine Schwesterchen dazu. Da die Mutter mit der grossen Familie sehr beschäftigt war, so war es die Aufgabe der älteren Mädchen, in der Freizeit zu den beiden jüngsten Geschwistern zu schauen. Wir durften nur irgendwo hingehen, wenn wir die beiden Geschwister mitnahmen, sei es in die Badeanstalt, zum Schlitten- oder Skifahren oder – etwas ganz Besonderes für damals – einen Filmnachmittag besuchen, Hauptsache, es schaute jemand zu den Kleinen. So habe ich es in Erinnerung.
Vielleicht war es auch umgekehrt, und wir erstritten uns unsere Teilnahme an bestimmten Freizeitaktivitäten damit, dass wir anerboten, unsere kleinen Geschwister mitzunehmen. Ich erinnere mich an einen vorweihnachtlichen Filmnachmittag des Kaufmännischen Vereins. In der Pause gab es warme Schokolade in einem Fläschchen mit Trinkhalm, so wie damals die «Pausenmilch», die im Winter in der Schule bestellt werden konnte. Wir durften in der Schule nie solche Milch bestellen, da diese zu viel Geld kostete und wir zu Hause genug Milch bekamen, wie die Mutter sagte. Wir konnten aber manchmal davon profitieren, dass ein Kind aus der Klasse krank war und uns der Lehrer die überzählige Milch zusteckte. Für uns war diese warme Schokolade deshalb ein besonderer Genuss.
Jetzt mühten wir uns jedoch die ganze Pause damit ab, unserem Bruder beizubringen, wie man mit einem Strohhalm trinkt, d. h. wie man durch den Trinkhalm einsaugt, ohne alles auf dem Boden zu verschütten.
Wie oft schämten wir uns und versuchten heimlich, das durch unseren Bruder entstandene Malheur zu vertuschen! Bei allen Aktivitäten mussten wir zudem auf der Hut sein, dass der Bruder nicht einen seiner Wutanfälle kriegte.
Da waren noch die Missionsfilmnachmittage. An diesen Nachmittagen wurden Filme von den Missionen in Afrika, Indien und auf Formosa, dem heutigen Taiwan, gezeigt. Diese waren oft nicht sehr zimperlich und nach heutigem Ermessen nicht für Kinder geeignet. Ich weiss noch genau, wie mich die Darstellung erschütterte, als während einer indischen Hochzeitszeremonie der Bräutigam von einer Schlange gebissen wurde und starb und die junge Witwe bei lebendigem Leibe mit dem Leichnam mitverbrannt wurde. Die Szene, wie der afrikanische Vater dem Sohn mit dem Hammer nachrannte, als er erfuhr, dass dieser in die Katechetenschule ging, löste bei unserem Bruder einen aggressiven Anfall aus, und es war schwierig, ihn nach Hause zu bringen.
Das Baden im See war nicht ohne. Aber vermutlich hatten wir so lange gequengelt, dass wir die kleinen Geschwister mit zum Baden nehmen durften. Wir hätten ja sonst bei diesem heissen Sommerwetter zu Hause bleiben