Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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auf den Beinen. Immer wieder stupste er sie um, wenn sie in seine Nähe kam. Glück­licherweise hatte sie damals noch fast keine Haare, und so konnte er sie nicht an den Haaren reissen. Später, als ihre Haare gewachsen waren, fielen auch ihre goldblonden Locken den Wutanfällen des Bruders zum Opfer.

      Ich hatte mich mächtig auf meinen Bruder gefreut, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, bevor er krank wurde. Doch dieser Bruder hier war ein Anderer. Er war unberechenbar in seinen Reaktionen. Er konnte lieb und fröhlich sein, doch urplötzlich begann er zu toben oder über uns herzufallen. Oft war es schwer nachvollziehbar, was ihn derart in Rage versetzte.

      Einmal war der Bruder wieder krank. Er war unruhig und weinte die ganze Nacht. Ich musste mit ihm das Zimmer teilen und hatte deswegen kaum ein Auge zugetan. Am andern Tag in der Schule war ich sehr müde. Die Augen wollten mir zufallen. Bereits mehrmals wurde ich von der Lehrerin ermahnt, ich sollte mich anständig hinsetzen und nicht so in der Bank herumhängen. Nun verlor sie die Geduld. Ich musste mich zur Strafe in die Ecke stellen. In diesem Moment trat der Schulinspektor ein. Wie schämte ich mich, hier in der Ecke zu stehen. Wie ungerecht fand ich die Strafe, doch ich konnte nicht erzählen, warum ich so müde war.

      Warum denn eigentlich nicht? Die Lehrerin kannte unsere Familie gut. Sie war auch schon bei uns zu Hause, weil meine älteste Schwester bei ihr im Sommerlager war. Warum war denn mein behin­derter Bruder nie ein Thema? Heute frage ich mich, warum ich mich nicht erklären konnte, wenn mein Bruder mir das Zeichnungsblatt zerriss oder wenn durch seine Schuld Tintenkleckse mein Heft verunstalteten? Ich kassierte Schelte und musste mich damit abfinden, dass ich einen besonderen Bruder hatte, dass unsere Familie anders war. Deswegen schämte ich mich auch immer wieder.

      Erst viel später erfuhr ich, dass einer meiner Mitschüler einen schwerstbehinderten Bruder hatte. Der Mitschüler stammte aus einer alteingesessenen Arztfamilie. Es hätte mir sehr geholfen, wenn ich von diesem Bruder gewusst hätte.

      Kur auf der Alp

      Es war Spätherbst, und diesmal war ich es, die stark hustete. Die Grosse Tante starb. Ich durfte wegen meines Hustens nicht einmal an ihre Beerdigung gehen. Ich versuchte, den Husten zu unterdrücken und weinte nachts leise in das Kissen. Eigentlich war ich ja nicht besonders gerne bei dieser Grosstante gewesen. Doch meine Mutter sagte mir damals, dass ich es später bereuen würde, wenn ich nicht mehr zu ihr gehen könne. Ich konnte mir das nicht vorstellen, doch nun war ich traurig und mein Gesicht von Tränen nass.

      Der Husten wurde stärker und ich musste um Luft ringen. Der Kinderarzt diagnostizierte nun bei mir ebenfalls «Keuchhusten». Wenn ich damals verschont blieb, als unser Bruder daran erkrankte, so hatte es mich diesmal wie aus heiterem Himmel erwischt. Ich weiss nicht, wo ich mich angesteckt hatte. Meine Mutter meinte, es sei im Gedränge der Herbstmesse geschehen. Ich hustete die Nächte durch und durfte nicht zur Schule gehen wegen der An­steckungsgefahr für die anderen Kinder. Da beschloss die Mutter, mich auch zur Kur auf die Alp zu Sophie und Gusti zu schicken, wie damals den Bruder. Offenbar hatte sie immer noch Vertrauen in die heilende Höhenluft, obwohl dort oben diese heimtückische Krankheit bei meinem Bruder ausbrach.

      Es gab aber noch einen ganz praktischen Grund, mich nach Grattigen zu schicken. Der Bruder war bereits dort. Wegen seiner durchgemachten Lungentuberkulose verordnete ihm der Arzt immer ­wieder Kuraufenthalte. Ich sollte ihm nun auf der Alp Gesellschaft leisten und dabei auch als Kindermädchen die Sophie entlasten.

      Es war ein nebliger Novembermorgen und noch stockdunkel, als meine Mutter sich mit mir auf die Reise machte. Nach einer längeren Zugfahrt warteten wir an einem Bahnhof auf das Postauto. Ein kalter Wind pfiff uns um die Ohren. «Hier bin ich geboren», sagte Mama. Ich schaute mich ungläubig um. Es gab kein Gebäude in der Umgebung, welches wie ein Spital aussah, und ich wusste inzwischen, wo die Kinder zur Welt kamen. Doch Mama erzählte mir, dass ihr Vater hier früher einmal Stationsvorstand war. Die Familie logier­te deshalb in der Dienstwohnung im Bahnhof, und damals waren Hausgeburten üblich. Von da an prahlte ich vor den anderen Kindern damit, dass meine Mutter in einem Bahnhof geboren wurde. Ich ernte­te immer ungläubiges Staunen.

      Nun fuhren wir mit dem Postauto hinauf ins Bergtal. Die Strasse war sehr eng und kurvenreich. Auf der einen Seite fiel sie steil ab, man konnte unten den See sehen. Auf der anderen Seite erhoben sich hohe Felswände. Vor den Kurven liess der Fahrer jeweils das Posthorn erklingen, um die talwärts fahrenden Fahrzeuge zu warnen. Obwohl Mama diese Strecke schon lange kannte, spürte ich, wie sie immer wieder zusammenzuckte, wenn das Postauto um eine enge Kurve fuhr.

      Oben im Dorf meldeten wir uns in der Bäckerei. Meine Mutter kannte die Besitzerfamilie von früher, als sie im Tal ihre Ferienlager durchführte. Bis zur Seilbahn nach der Alp Grattigen hätten wir noch einen einstündigen Fussmarsch zurücklegen müssen. So hatte die Mutter arrangiert, dass wir mit dem Bäcker mitfahren konnten. Er versorgte zweimal wöchentlich das ganze Tal mit Lebensmitteln. Hinten im Tal wohnte die Schwester von Sophie, das Griti. Griti war eine weisshaarige Frau, etwas grösser und nicht so rundlich, jedoch gleich resolut und mit dem gleichen Humor ausgestattet wie ihre Schwester oben auf der Alp. Bei Griti musste man sich melden, wenn man mit der Seilbahn hinauffahren wollte. Dann telefonierte sie mit dem Seilwart. Der musste jeweils seine Arbeit liegen lassen und zur Bergstation hinabsteigen.

      Wir warteten in Gritis Küche. Auf dem Feuerherd brodelte Wasser in einer von Russ geschwärzten Pfanne. Griti nahm fein gemah­le­nes dunkles Pulver aus einer Büchse und rührte es direkt in die Pfanne. Mit einer Schöpfkelle goss sie ein wenig kaltes Wasser nach. Es spritzte und zischte. Man müsse den Kaffee «verchlipfe», erklärte mir Griti, damit sich das Kaffeepulver auf den Pfannenboden setze. Ich nippte genüsslich an dieser mit viel Zucker gesüssten braunen Brühe. Kaffeetrinken war uns Kindern sonst nicht erlaubt. «Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank …», sangen wir in der Schule im Kanon. Von dem dazu gereichten – im Kamin getrockneten – Ziegenfleisch konnte ich kaum genug bekommen. Doch Mama sagte mir, dass es nicht anständig sei, so viel davon zu nehmen.

      Die offene Seilbahn, welche uns auf die Alp bringen sollte, sah sehr abenteuerlich aus. Als halsbrecherisch und lebensgefährlich fand ich sie später in der Presse beschrieben. Sie bestand aus zwei mit Rollen an Drahtseilen aufgehängten Lattenverschlägen, die sich gegenseitig hochzogen. Hinten war ein Tank angebracht. Oben wurde dieser jeweils mit Wasser aufgefüllt. Der mit Wasser gefüllte Tank gab das Gegengewicht für den Antrieb des unteren Gefährtes. Beim Einlaufen in die Talstation entleerte er sich automatisch. Dieses Bähnchen funktionierte ganz ohne Strom, nur mithilfe der Schwerkraft. Das konnte in trockenen Sommern problematisch sein. Es kam vor, dass die Seilbahn stecken blieb, weil der Wassertank zu wenig gefüllt oder die Fracht zu schwer war. Dann musste der Seilwart das Bähnchen von Hand heraufkurbeln.

      Wir hatten nun das Gepäck aufgeladen und uns in der schaukelnden Kiste eingenistet. Dann schlug Griti mit einer rostigen Stange auf das Seil. Das Seil begann zu schwingen und das war das Abfahrtssignal für den Seilwart, das Bähnchen setzte sich in Bewegung. Langsam glitten wir nach oben. Mama sagte mir, ich solle die Augen schliessen, als wir über eine tiefe Schlucht pendelten.

      Es waren erst drei Jahre vergangen, seit die Mutter an einem kühlen Herbstabend mit dieser Seilbahnkiste talwärts fuhr, ihr fieberndes Söhnchen in eine Wolldecke gewickelt. Onkel Emil wartete an der Talstation auf die beiden. Er fuhr die Mutter mit dem schwerkranken Bruder zuerst zu unserem Kinderarzt und anschliessend in das Kinderspital der nächstgelegenen Grossstadt. Es war eine lange abenteuerliche Fahrt. Spät in der Nacht erfuhr die Mutter von den Ärzten in der Klinik die vernichtende Diagnose.

      Was mag ihr damals auf dieser Reise alles durch den Kopf gegan­gen sein? Die Mutter sprach nie darüber.

      Heil auf der Alp angekommen, mussten wir noch zwanzig Minu­ten den Berg hinaufsteigen, bis wir auf der Vorderen Egg bei Sophie und Gusti waren. Dort sprang uns der Bruder entgegen. Er roch nach Stall. Mama übernachtete mit uns oben auf der Alp, da es zu spät war, um am gleichen Tag wieder zurückzureisen. Als am andern Morgen mein Bruder und ich aufwachten, war sie bereits weg. Sie hatte sich wohl davongeschlichen, um uns allen den Abschied zu erleichtern. Am Vorabend gab mir Mama ein Päckchen mit roten Plastikperlen, die man nach verschiedenen Mustern