Ein Bruder lebenslänglich. Margrith Lin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrith Lin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551997
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bis der Bruder endlich nach Hause komme, aber die ersehnte Heimkehr zögerte sich hinaus. Ich war im Kindergartenalter, doch die Mutter hatte mich nicht für den Kindergarten angemeldet. Sie dachte, dass sie mich zu Hause als Kindermädchen für den kleinen Bruder brauchen würde, wenn er wieder nach Hause käme. Nun war er nicht da und ich allein zu Hause, denn meine beiden älteren Schwestern verbrachten ihre Zeit in der Schule oder mit Lernen. Maria war auch nicht mehr bei uns. Da unser Bruder nicht zu Hause war, gab es nicht mehr so viel Arbeit und sein Spitalaufenthalt war teuer, sodass meine Eltern Maria den Lohn nicht mehr bezahlen konnten. Sie fand eine neue Anstellung in einer Bäckerei der Hauptstadt. Ich vermisste Maria sehr, ihre anrührenden Geschichten und ihre traurig schönen Lieder. So versuchte ich, mir die Zeit zu vertreiben, indem ich mir selbst Geschichten ausdachte. Auch zeichnete ich auf jedes Blatt Papier, das mir gerade in die Hände kam. Oft waren es kleine Kinder, welche krank im Bettchen lagen, umschwirrt von kleinen Engelchen. Oben in der rechten Ecke war meist ein kleiner Teufel zu entdecken, welcher mit Weihwasser verjagt wurde. Einmal bemalte ich ein ganz wichtiges Dokument, welches mein Vater tage­lang suchte. Ich weiss nicht, wo ich es ergattert hatte, aber seine Worte, dass er deswegen ins Gefängnis hätte kommen können, verfolgten mich lange. – Ich wäre schuld daran gewesen!

      Die wurmstichige Stiege im Treppenhaus sowie die Parkettböden in der Wohnung mussten wöchentlich gebohnert werden, damit sie wieder schön glänzten. Die darauf liegenden Teppiche wurden sorgfältig zusammengerollt und auf der speziell dafür vorgesehenen Teppichstange vor dem Haus tüchtig durchgeklopft. An dieser Teppichstange übten wir Kinder unsere ersten Kunststücke: «Flugzeug», «Bär» und «Glocke». Für die «Glocke» hängten wir uns kopfüber an die Stange. Im Hängen fiel uns Mädchen der Rock über den Kopf, sodass wir wie eine Glocke baumelten. Eine besondere Mutprobe war der «Glockenabsprung», bei dem man hin und her schwingend kopfüber von der Stange springen musste. Man sah nackte ­Beine und Unterhosen. Grossmama und Tante Gret war dieses Herum­turnen ein Ärgernis.

      Für die schwereren Putzarbeiten konnte die Mutter auf die Unterstützung von Frau Kunz zählen. Frau Kunz war eine kräftige, wenn auch schon grauhaarige Frau. Immer sehr freundlich, konnte man ihr nicht ansehen, wie viel Schweres sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. In jungen Jahren aus dem kriegsversehrten Deutschland in die Schweiz geflüchtet, wurde sie schon sehr früh mehr­fache Mutter und hatte in kümmerlichen Verhältnissen acht Kinder grosszuziehen. Da ihr Mann wegen einer Muskelkrankheit nicht mehr arbeiten konnte, musste Frau Kunz bei fremden Leuten putzen und waschen gehen, um die Familie zu ernähren. Der Mann versuchte, als Hausierer etwas dazuzuverdienen. Herr Kunz kam mehrmals jährlich mit seinem Hausiererkasten bei uns vorbei. Er führte ein kärgliches Sortiment an Schuhbändeln, Schuhwichse und Abwaschlappen. Unsere Mutter hatte immer ein grosses Herz für Hausierer, und so kam es, dass wir immer ein ganzes Arsenal an braunen Schuhbändeln, Wichse und Waschlappen horteten.

      Herr Kunz – klein gewachsen und beim Gehen mit dem ganzen Körper wackelnd – konnte sich nur mühsam mithilfe von zwei Stöcken vorwärtsschleppen, ein ungewohnter Anblick für uns Kinder. Ich turnte gerade mit Trixli an der Teppichstange, als Herr Kunz von seinem Schuhbändelverkauf bei unserer Mutter aus dem Hause trat.

      Trixli wohnte nebenan. Mit ihrem blonden Lockenschopf sah sie wie ein kleiner Engel aus. Wie gerne hätte auch ich so einen goldi­gen Lockenkopf gehabt. Mama wusch uns deshalb unser braunes Haar immer mit «Schwarzkopf Shampoo extra blond», und um mich zu trösten, bestätigte sie mir, dass ich auch Locken hätte, «steckengerade» eben.

      Das blond gelockte Trixli humpelte nun – von Herr Kunz unbemerkt – einige Schritte hinter ihm her und ahmte seinen hinkenden Gang nach: «Schau, so geht der.» Ich fand jedoch, dass Trixli mit ihrem Humpelgang völlig falsch lag. Die Bewegungen von Herrn Kunz ­waren viel verschrobener. «Nein, so», korrigierte ich Trixli, verdrehte meine Beine und wackelte dazu mit dem Kopf. Schon unterbrach mich die scharfe Stimme der Grossmutter. Da stand sie unter dem Küchenfenster wie der Engel beim Jüngsten Gericht. «Du solltest dich schämen, diesen armen Mann auszulachen! Besonders, da du ja selbst einen kranken Bruder hast.» Wir hatten uns über Herr Kunz nicht lustig gemacht. Mit kindlicher Neugier hatten wir lediglich versucht, sein ungewöhnliches Bewegungsmuster zu imitieren. Doch ich bekam Hausarrest und musste den ganzen Nachmittag bei Grossmutter in der Wohnung bleiben. Von draussen riefen mich meine Spielkameradinnen. Sie bettelten so lange, dass ich rauskommen sollte, bis ich mich an dem fast ebenerdigen Fenstersims langsam hinuntergleiten liess und mich zu ihnen gesellte.

      An das, was nachher war, kann ich mich nicht mehr genau erinnern …

      Auf Fotos sieht man mich – eigentlich viel zu alt dazu – in einem Kinderwagen sitzen. Beim Spiel im Sandhaufen hatte mich etwas in den Finger gestochen – und plötzlich konnte ich für eine Weile nicht mehr gehen. Bis heute ist nicht klar, was damals los war. Eine Strafe des Himmels oder eine Selbstbestrafung für das Nachäffen von Herrn Kunz? Engelchen Trixli blieb unbehelligt.

      Engel waren überall, scheint es mir heute. Beim Spielen im Garten fanden meine Schwester und ich in einer verwinkelten Ecke – ganz von Gebüsch überwachsen – einen Stein aus weissem Marmor mit einem kleinen Engel darauf. In diesem Stein war der Name unseres Bruders gemeisselt, wie mir die Schwester entzifferte. Ich konnte damals noch nicht lesen. Wir waren verwirrt.

      Tante Gret konnte uns dieses Mysterium später deuten: Als die erste Frau von Onkel Emil bereits sehr krank war, hatte sie ein Bübchen geboren, welches jedoch bald darauf starb. Es wurde auf den Namen seines Grossvaters – unseres Urgrossvaters – getauft. Dieser Name wurde auch an unseren Grossvater, Vater und nun an unsern Bruder weitergegeben. So war es in vielen Familien üblich.

      Nach der Räumung des Grabfeldes wurde der Grabstein des verstorbenen Bübchens in den Garten gestellt und der Natur überlassen.

      Mich jedoch liessen die Gedanken an den Stein mit dem kleinen Engel nicht mehr los. Wenn dieser Engel nun auch meinen Bruder zu sich holen würde?

      Bei der Grossen Tante

      Das Herrschaftshaus

      An einem schönen Frühlingstag sah ich, wie Mama meine Kleider in den kleinen Binsenkoffer packte, der sonst oben auf dem Dachboden stand. Ich dürfe für einige Zeit zu meiner Grosstante in die Ferien gehen. Mama hatte im Moment wenig Zeit für mich, und sie konnte mich nicht allein zu Hause lassen, wenn sie den Bruder besuchte. Dass es noch einen anderen Grund gab, warum Mama entlastet werden sollte, erfuhr ich erst später.

      Grosstante war die grosse Schwester meiner Grossmutter. Sie war gertenschlank. Grosstante hatte die Haare hinten zu einer Rolle zusammengesteckt und trug eine schwarze runde Drahtbrille, was ihr ein strenges Aussehen gab. Wir meinten, sie heisse Grosstante, weil sie so gross gewachsen war, dies im Gegensatz zu unserer eher etwas behäbigeren Grossmutter. Deshalb nannten wir Kinder sie die Grosse Tante.

      Vor der Heirat unserer Grossmutter führten die beiden Schwestern gemeinsam eine Schneiderei. Ihre Mutter früh verloren und in armen Verhältnissen aufgewachsen, hatten sie die Gelegenheit, im Waisenhaus einen Kurs als Weissnäherinnen zu besuchen. Die Grosse Tante bildete sich anschliessend zur Schneiderin weiter. In kurzer Zeit führten die beiden Schwestern ein florierendes Geschäft mit einigen Lehrtöchtern und einer internationalen Kundschaft aus den Nobelhotels der Umgebung. Grossmutter lernte deswe­gen in Abendkursen Englisch. Sie war stolz, wenn sie die Kundschaft auf Englisch empfangen konnte. Sie, die nach der sechsten Klasse die Schule verlassen musste, weil das Geld für das Lesebuch der siebten Klasse nicht reichte! Die beiden Schwestern gaben auch Nähkurse für junge Mädchen zur Vorbereitung auf ihre spätere Rolle als Ehe- und Hausfrau. Kurz nach meiner Grossmutter heiratete auch die Grosse Tante. Sie lernte ihren Mann durch seine vier Schwestern kennen. Sie alle besuchten einen Nähkurs bei ihr.

      Die Grosse Tante heiratete in eine Familiendynastie ein. Der ­Familie ihres Mannes gehörte ein direkt am See gelegenes grosses Herrschaftshaus. Man erzählte sich, dass die Schwiegermutter jeweils ins Jagdhorn blies, um ihre sieben Kinder zum Essen zusammenzurufen. Nun waren die Töchter ausgezogen. Grosstantes Mann Gottlieb führte mit seinen zwei Brüdern Xaver und Chasper den Gutsbetrieb mit Bauernhof, Trotte und Käserei. Die Ehe der Grossen Tante und Onkel Gottlieb blieb kinderlos. Deshalb nahm