Nur dämlich, lustlos und extrem?. Kurt Möller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Möller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783948675943
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       SINNBILANZEN

      Menschen wollen wissen, inwiefern ein bestimmtes Denken, Fühlen oder Handeln ihnen oder anderen »etwas bringt«, sie wollen Vorteile oder Gewinne darin absehen können – keinesfalls nur materielle – und sie wollen erkennen können, dass ihr Streben, Tun oder Unterlassen nicht völlig belanglos ist, sondern Spuren hinterlässt, kurzum: Sie wollen Sinn darin sehen. In Bezug auf politische Haltungsbildung heißt dies: Solange politische Positionierung und politische Aktivität(sbereitschaft) als etwas wahrgenommen werden kann, das Wirkungen hinterlässt, sind diesbezügliche Aufladungen mit Sinn möglich. Wo hingegen angenommen wird, dass »alles sowieso egal« ist, werden Sinnzuschreibungen und Sinnstiftung verhindert.

      Wird mithin das demokratische System als eine Struktur wahrgenommen, über die Interessenabwägungen und öffentliche Belange nicht angemessen reguliert werden können, muss Unzufriedenheit mit ihm und seinen Institutionen nicht erstaunen. Wo das Personal, das in ihm Entscheidungen trifft, als abgehoben vom »Boden der Tatsachen«, wenig vertrauenswürdig, wenn nicht gar als Kundschaft in einem »Selbstbedienungsladen« gilt, fällt es schwer, es als Repräsentanz des Volkes wahrzunehmen und seiner Finanzierung aus Steuergeldern Sinn zuzuschreiben. Unzufriedenheit mit ihm und Skepsis gegenüber derartiger Umsetzung der demokratischen Idee können dann, wenn sie nicht in Resignation und Apathie führen, sowohl in systemkonformes Aufbegehren münden als auch zu Aggressionen verleiten, die einen Umsturz propagieren und dabei gegebenenfalls auch un- und antidemokratische Mittel mit sich bringen.

      Und auch hier zeigt sich: Wo das Funktionieren von demokratisch ausgerichteten Kanälen politischer Mitsprache, Mitentscheidung und Mitwirkung erfahren werden kann, wird Distanz zu und Distanzierung von demokratiewidrigen Haltungen ermöglicht (vgl. ebd.).

       SINNLICHKEITSBILANZEN

      Menschliche Orientierung verläuft nicht ausschließlich kognitiv. Menschen sind bio-psychosoziale Wesen, sie haben Körper und Gefühle. Auch wenn Bedürfnisaufschub über einen gewissen Zeitraum hinweg möglich ist – die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse ist für sie auf Dauer unverzichtbar: sich und andere spüren, Interessantes sehen und hören, geschmackvoll genießen u. a. m. Dementsprechend beurteilen sie ihre Existenz auch danach, welche Erfahrungen ihnen hinsichtlich sinnlicher Befriedigungen zur Verfügung stehen.

      Selbst Politik und Politisches sind hochgradig sinnlich aufgeladen: Die Personalisierung von Politik schreitet scheinbar unaufhaltsam voran, sodass Fragen von Sympathie und Aussehen für die, die um politische Gefolgschaft buhlen, immer wichtiger werden. Symbole, die sie verwenden, Metaphern, in die sie ihre Botschaften kleiden, Bilder und Fotos, mit denen sie sich bzw. ihre Themen in Szene setzen, Personen, mit denen sie sich umgeben, Gefühle, die sie zu wecken oder umzulenken vermögen – all das und vieles mehr an personaler Außendarstellung, Themenverpackung und Agendasetting wirkt zunehmend meinungsbildend. Und »das Politische« ist ohnehin in das Alltagsgeschehen und damit auch in dessen Wahrnehmung und emotionale Bewertung verwoben. Aus der Sicht besonders von Herkunftsdeutschen wird diesbezüglich immer wieder vorgebracht: die Anzahl und die Außenwirkung der Migrant*innen, die im ÖPNV mitfahren, die Multikulturalisierung der Nachbarschaft, die Sprachenvielfalt in der Kita, die ethnische Durchmischung von Schulen, die Verfügbarkeit von Lokalen mit internationaler Küche, aber auch die Furcht vor marodierenden Horden Rechtsextremer, die Angst vor mehr Luftverschmutzung und Umweltzerstörung, die Betroffenheit von (scheinbar wachsender) Unsicherheit im öffentlichen Raum u. a. m. Einerlei, ob solche Faktoren als Zumutungen und Bedrohungen oder Pluralitätsgewinne und Innovationsschübe (oder noch anders) erlebt werden: Sie verdeutlichen die emotionale Aufladung des Politischen und damit seine sinnlichen Erfahrungskomponenten. Die darüber vorgenommene Bewertung politischer Aspekte beeinflusst die politische Haltungsbildung enorm (vgl. auch Besand u. a. 2019)

       MENTALE VERARBEITUNGEN

      Phänomene wie die genannten existieren für das Subjekt nicht nur in der Außenwelt. Sie werden – ebenso wie Vorstellungen von sich und anderen – auch in bestimmter Art und Weise innerlich abgebildet: Jede*r macht sich ein Bild von ihnen. Diese mentalen Abbilder der Realität oder dessen, was für Realität gehalten wird, haben die Funktion, Wahrnehmungen und Erlebensweisen ikonografisch und figurativ im Erfahrungshaushalt abzulegen, sie dort einordenbar zu machen und für den kommunikativen Austausch über die von ihnen repräsentierten Phänomene zu »präparieren« (vgl. auch Moscovici 1988). Auf sie lässt sich intuitiv und ohne langes Überlegen assoziativ zurückgreifen. Auf leicht zugängliche Weise ist mit ihnen so Komplexität zu reduzieren. Insofern strukturieren diese mentalen Repräsentationen die gemachten Erfahrungen, treffen aber auch Vorentscheidungen zum einen über die Einordnung neu auftretender Eindrücke, zum anderen für das Aufsuchen neuer Erfahrungen. Sie wirken somit selektiv auf potenzielle Deutungen von Wahrgenommenem sowie auf die Wahl von Optionen, die in Handlungs- und Verhaltenshorizonten aufscheinen.

      Problematisch, ja unter Umständen demokratiegefährdend werden sie dann, wenn sie komplizierte Sachverhalte nur holzschnittartig nachzeichnen, Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, scharf konturierte Freund-Feind-Gegensätze skizzieren, damit auf Ambivalenzen, Nuancen und Differenzierungen verzichten und so Pauschalisierungen Vorschub leisten, die solche Bilder verfestigen und sich gegenüber Veränderungen widerständig zeigen. Tendenzen dazu, mentale Repräsentationen so anzulegen, werden dadurch begünstigt, dass diese gesellschaftlich großräumig vagabundieren, von vielen, insbesondere deutungsmächtigen Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden und deshalb zunehmend als »normal« betrachtet werden können. Wo sich z. B. vermeintlich »typische« Vorstellungen von »den Juden«, »den Flüchtlingen« oder »den Muslimen« verbreiten und stabilisieren, wird unvoreingenommenes Urteilen erschwert und stattdessen eine Ordnungspraxis verstärkt und zementiert, die an den schon vorhandenen Deutungsangeboten andockt und im Lebensverlauf neu auftauchende Erfahrungen nach deren Mustern einsortiert. Der Aufenthalt in Filterblasen und Echokammern der sozialen Medien scheint diese Tendenz deutlich zu begünstigen, weil hier die Konfrontation mit dem anderen ausbleibt und immer wieder die gleichen Mentalitätsbestände umgeschlagen werden.

       PERSÖNLICHE KOMPETENZEN

      Die subjektive Erfahrungsverarbeitung wird zudem bestimmt von individuellen Fähigkeiten, die sich mit dem Begriff der Selbst- und Sozialkompetenzen fassen lassen: von der Sensibilität für die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und der Bedürfnisse anderer, von Empathievermögen, Impulskontrolle, Reflexivität, ausgebildeten Toleranzen gegenüber Frustrationen, Ambivalenzen und Ambiguitäten, Dialogfähigkeit, Fähigkeiten zu verbaler Konfliktregulierung u. Ä. m. Die eigene Lebenserfahrung lehrt diesbezüglich: Solche Kompetenzen sind weder angeboren noch fallen sie vom Himmel. Sie sind vielmehr Produkte der Erfahrungen, die jemand macht. Werden Erfahrungen gemacht wie selbstwirksam sein zu können, zugehörig zu sein, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, Teilhabechancen zu erhalten, eigenes Handeln als sinnvoll zu erleben und sinnliche Bedürfnisse genussvoll befriedigen zu können? Und wird die Erfahrung gemacht, dies gemeinsam mit anderen sowie zugleich in Respekt wahrendem Austausch und verhandlungsbasiertem Abgleich mit ihnen umsetzen zu können? Erfährt die Person also solche Formen der Bedürfnisbefriedigung als funktional für die eigene Lebensgestaltung im Kontext kollektiver Lebensgestaltungspraxis? Oder macht sie die Erfahrung, dass eher rücksichtslose Selbstdurchsetzung, z. B. mittels Gewalt, »Treten nach unten«, und das Verfolgen von Partikularinteressen, z. B. nationalistische Vorteilsmaximierung, sie gesellschaftlich und persönlich voranbringt?

      Im Übrigen hängt von den persönlichen Kompetenzen und zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Einordnung von Erfahrungen sowie zur Artikulation gesellschaftlicher Interessen auch ab, inwieweit politische Anliegen überhaupt als solche begriffen und dann auch entsprechend geäußert werden. Dasselbe gilt dafür, inwieweit soziales Engagement in den kleinen Lebenswelten des Alltags, etwa wechselseitige Unterstützung in der Nachbarschaft, Aktionen zum Erhalt einer sauberen Umwelt oder Mitgestaltungen des kulturellen Lebens vor Ort bzw. in jugendkulturellen Szenen, überhaupt als politisch verstanden werden und damit auch bei quantitativen Befragungen Eingang