Nur dämlich, lustlos und extrem?. Kurt Möller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Möller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783948675943
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Future, Ende Gelände oder Black Lives Matter prägen ihre politische Sozialisation und ihr politisches Lernen (vgl. auch Bundesministerium 2020). In welcher Form dies geschieht, zeigen nicht zuletzt einschlägige Interviews zu solchem Engagement in diesem Band.

       JUGEND UND POLITIK – EMPIRISCHES WISSEN AUS QUALITATIVEN UNTERSUCHUNGEN

       POLITIKGESTALTUNG ALS LEBENSGESTALTUNGSCHANCE

      Alles in allem zeigt sich bei der Betrachtung der oben aufgeführten quantitativen Befunde: Politisches Interesse und politisches Engagement hängen stark von den Lebenslagen ab, in denen junge Leute aufwachsen. Insbesondere werden sie offensichtlich beeinflusst von den Lebensgestaltungschancen, die von den Rahmungen und strukturellen Bedingungen jeweiliger Lebenslagen abgesteckt werden und in ihnen wahrgenommen werden können. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn auch Befunde von qualitativen Untersuchungen einbezogen werden, also von Studien, die nicht mit Fragebogenstatements und deren Ankreuzen operieren, sondern auf ausführlichen und im zeitlichen Verlauf der Biografie mehrfach durchgeführten Interviews mit jungen Menschen zu politisch und sozial relevanten Haltungen basieren. Sie sind in der Lage, detaillierter zu entschlüsseln, was die Befragten eigentlich konkret unter Formulierungen wie z. B. »sich umweltbewusst verhalten«, »durch den Islam unterwandert werden« oder »politisch engagiert sein« verstehen, welche eigenen politisch-sozialen Akzente sie innerhalb einer offenen Gesprächsatmosphäre setzen und wie(so) sich hierbei im Laufe der Zeit Stabilisierungen oder Veränderungen der Haltungen einstellen. Weiterführende Erkenntnisse können hierzu aus der letzten über drei Jahre hinweg erfolgten Langzeituntersuchung zu politisch-sozialen Haltungen von Jugendlichen, hier insbesondere zu Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) gegenüber Angehörigen als missliebig eingeschätzter Gruppierungen, entnommen werden (Möller u. a. 2016). Demnach sind es bestimmte biografische Erfahrungen und ihre Verarbeitungsweisen, die Weichenstellungen in Richtung auf die Entwicklung entweder un- und antidemokratischer oder demokratiekonformer Orientierungen und Aktivitäten begünstigen. Genauer gesagt handelt es sich dabei zum einen um Bilanzierungen, die die Befragten in Hinsicht auf ihre Lebensgestaltungsmöglichkeiten, genauer: in Hinsicht auf Kontroll-, Integrations-, Sinn- und Sinnlichkeitserfahrungen, vornehmen; zum anderen betreffen sie mentale Abbilder relevanter Sachverhalte und Personengruppierungen, sogenannte erfahrungsstrukturierende Repräsentationen, die bei der Erfahrungsverarbeitung eine Rolle spielen, und ihre persönlichen Möglichkeiten, bestimmte Selbst- und Sozialkompetenzen für die eigene Erfahrungsverarbeitung zur Verfügung zu haben.

       KONTROLLBILANZEN

      Menschen haben ein ganz grundlegendes Bedürfnis nach Realitätskontrolle (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975, 1976), d. h., sie sind motiviert, ihre eigenen Geschicke möglichst weitgehend im Griff zu haben, jedenfalls nicht fremden Mächten hilflos ausgeliefert zu sein. Das Gefühl, wie weit das »Heft des Handelns« in der eigenen Hand sein muss, ist allerdings nicht bei allen gleich stark ausgeprägt: Die einen setzen alles daran, z. B. ihren beruflichen Lebensweg bis in die kleinste Verästelung hinein völlig eigenständig zu lenken, die anderen ergeben sich eher dem Schicksal, das sich für sie auf dem Arbeitsmarkt ergibt. Den einen ist es wichtig, den Wohnort und die Wohnverhältnisse gänzlich selbstbestimmt wählen zu können, die anderen schließen weitreichende Kompromisse zugunsten beruflichen Fortkommens oder aus Gründen der Partnerschaft und des Familienlebens. Die einen bilden generell quer über alle Lebensbereiche ein hohes Level an persönlichen Kontrollerwartungen aus, die anderen geben sich mit vergleichsweise geringer Eigenkontrolle zufrieden – dies unter Umständen schon allein deshalb, weil sie wenig Kontrollbewusstsein haben, also annehmen, allenfalls zu einem kleinen Teil den Lauf der Dinge selbst bestimmen zu können.

      So unterschiedlich jedoch auch das Niveau an Kontrollerwartungen beschaffen sein mag: Je stärker ich über das, was mich betrifft, verfügen können will, umso mehr leide ich darunter, wenn mir dies nicht im gewünschten Maße möglich erscheint. Wenn ich also eine Bilanz meiner Kontrollmöglichkeit anstelle, dann ist nicht das absolute Maß der mir »objektiv« gegebenen Kontrolle entscheidend dafür, wie sie von mir gewertet wird, sondern die Relation zwischen Erwartungshöhe und tatsächlich erfahrenem Realisierungsgrad von Kontrolle. Sofern nun die erlebten Kontrolldefizite als besonders groß und schmerzlich empfunden werden, liegt es zum einen nahe, äußere Umstände oder andere Personen(gruppierungen) für wahrgenommene Kontrollmängel verantwortlich zu machen, Verschwörungen als ursächlich zu wähnen und diese zu skandalisieren bzw. die dafür scheinbar Verantwortlichen anzugreifen, oder zum anderen Kontrollerfahrungen auch in Formen zu suchen, die außerhalb sozialer Akzeptanz liegen: in Gewaltanwendung, Proklamierung nationalistisch begründeter Privilegien, Diskriminierung Durchsetzungsschwächerer u. Ä. m.

      Dass dafür gerade junge Menschen anfällig zu sein scheinen, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, der gesellschaftlich in herausgehobener Weise die Aufgabe zugewiesen wird, als Individuum eine eigenständige Identität zu entwickeln. An Jugendliche wird die Erwartung herangetragen, sich aus den Abhängigkeiten der Kindheit nach und nach zu lösen, sich in der Gesellschaft zu positionieren und damit den Nachweis zu erbringen, mehr und mehr »auf eigenen Beinen stehen« zu können. Dies nicht hinreichend auf gesellschaftlich akzeptierte Weise zu können, wird daher von ihnen nicht selten als Versagen und Schmach erlebt, die nicht hingenommen werden kann. Zur Identitätssicherung wird in der Folge Kontrolle durch den Ausweis von Selbstgewissheit und Durchsetzungsfähigkeit auf anderen Feldern zu belegen versucht. Deshalb ist es alles andere als verwunderlich, wenn die lebensgeschichtlich relevanten Wurzeln des »Nationalpopulismus« (wohl nicht nur) junger Leute auch durch quantitative Forschung in ihrem »Wunsch nach Rückgewinnung von Kontrolle« (Shell 2019, 85) lokalisiert werden.

      Wer hingegen Kontrolle über das eigene Leben in Respekt vor der Gleichwürdigkeit aller und unter Einsatz demokratischer Mittel in den Arealen der Politik und des Politischen zu verspüren vermag und/oder auch wahrnehmen kann, dass Mitglieder derjenigen Gruppierung, die als Eigengruppe verstanden wird, vergleichbare Erfahrungen machen (können), muss gar keine Notwendigkeit darin sehen, Kontrolle außerhalb der Sphären solcher Dialog- und Auseinandersetzungsformen zu suchen, da sich hier Selbstwirksamkeit und Identitätsanker finden lassen.

       INTEGRATIONSBILANZEN

      Menschen sind zutiefst soziale Wesen. Sich irgendwo und irgendwelchen Kollektiven zugehörig zu empfinden, teilhaben zu können, sich anerkannt zu fühlen und Identifikationsmöglichkeiten zu verspüren, ist für sie daher basal. Jede*r will sich sozial integriert fühlen; dies gilt unabhängig von dem von Person zu Person schwankenden Ausmaß, in dem dies angestrebt wird, und auch unabhängig von der Art und Weise, in der das jeweils gesucht wird. Wo das politische System als prinzipiell integrativ, auch für die eigene Person, angesehen werden kann, werden Chancen ersichtlich, solche Bedürfnisse zu realisieren. Wenn aber die subjektive Bilanzierung des erreichten Integrationsniveaus zu dem Resultat kommt, Integrationshoffnungen durch die Beschreitung der gesellschaftlich dafür zur Verfügung stehenden legitimen Wege nicht eingelöst oder zukünftig einlösbar sehen zu können, gleichzeitig aber auch keine wesentlichen Abstriche an ihnen gemacht werden können, dann kann der Versuch attraktiv erscheinen, entsprechende Wünsche anderweitig umzusetzen, etwa durch Anbindung an einen politischen Kontext und politische Gruppierungen, die abseits dieser Wege Integrationserfahrungen versprechen, etwa in sich ethnisch-kulturell abschottenden, rechtsextremistischen, verschwörungsseparatistischen oder »islamistischen« Zusammenhängen.

      Jugendliche können deshalb als für solche Angebote besonders ansprechbar gelten, weil sie sich in einer Lebensphase befinden, in der Antworten auf Fragen nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Teilhabe und Identifikation im Zuge ihrer Identitätsentwicklung besonders vordringlich erscheinen. Bemerkenswerterweise erwerben Menschen, die aus derartigen »extremistischen« Bezügen aussteigen, im Prozess ihrer Distanzierung für sie neuartige Integrationsoptionen oder reaktivieren frühere, sodass sie mindestens gleichwertigen Ersatz für ihre vormaligen Einbindungen in »extremistische« Politikzusammenhänge gewahr werden. Dabei liegen diese Integrationserfahrungen zumeist gar nicht einmal in Räumen der Politik im engeren