Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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Recht und seine Genese freilich als Instrument des Interessensstreits und -ausgleichs (vgl. 1.1.2), so kann auch die Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall davon nicht unberührt sein (s. 3.5). Auch bei der Würdigung des Sachverhalts wirken sich Sichtweisen und Vorverständnisse aus; insb. im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geht es nicht nur um logisch-systematische Überlegungen, sondern um wertende Entscheidungen, die allerdings der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Subsumtion ist also die spezifisch rechtsmethodische Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Lebenssachverhalt, die zwar in Anlehnung an die Begriffe der Logik durch eine sprachlich genaue und systematisch-strukturierte Arbeitsweise, dessen ungeachtet aber durch eine Interessen abwägende, wertende Ergebnisorientierung gekennzeichnet ist.

      Voraussetzung für die Rechtsanwendung ist, dass der Lebenssachverhalt feststeht und nicht erst noch untersucht werden muss oder Behauptungen be- und nachgewiesen werden müssen. Hier ist es von Bedeutung, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht objektiv, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten ist (vgl. Maturana/Varela 1987). Wird dies ignoriert, helfen weder zirkuläres Denken noch binäre Entscheidungsstrukturen, um zu angemessenen Ergebnissen und Entscheidungen zu kommen.

      Suchen und Finden der Rechtsgrundlage

      Da nach dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts Eingriffe in die Rechtsposition des Bürgers nur zulässig sind und Ansprüche auf Sozialleistungen nur bestehen (§ 31 SGB I), wenn ein Gesetz den Eingriff legitimiert bzw. das Gesetz die Erbringung der Leistung vorsieht (s. 2.1.2.1), muss man zuerst eine „einschlägige“ Rechtsnorm finden, deren Rechtsfolge die gewünschte Entscheidung legitimiert. Entsprechendes gilt im Hinblick auf einen privatrechtlichen Konflikt. Auch hier muss zunächst eine Anspruchsgrundlage gefunden werden. Da man sich während seines Studiums nicht in alle Rechtsmaterien einarbeiten (und diese auswendig lernen) kann, in denen die Klienten möglicherweise Beratungsbedarf haben, müssen Fachkräfte der psychosozialen Arbeit (wie alle anderen professionellen Rechtsanwender auch) die Bereitschaft und Fähigkeit haben, sich in neue, unbekannte Rechtsmaterien und Sachgebiete hineinzufinden. Dazu muss man wissen, welche Gesetzessammlungen es überhaupt gibt und wie man sich darin z. B. mithilfe des Inhaltsverzeichnisses oder Registers zurechtfinden kann. Man muss erkennen, wie ein Gesetz in seiner Struktur aufgebaut ist und worin der innere Zusammenhang der Rechtsnormen besteht. Weniger die inhaltlichen Details, vielmehr muss man wissen, „wo etwas steht“ bzw. wie man etwas findet und wie man damit umgeht.

      Ausgangspunkt der juristischen Fallprüfung ist die Klärung der sog. vier W-Fragen: Wer will Was von Wem Woraus? Wenn der Bürger (insb. von der Sozialverwaltung) etwas will, geht es um die Suche einer entsprechenden Anspruchsnorm, wenn die Sozialverwaltung etwas (insb. vom Bürger) will, geht es um die Suche einer das Handeln legitimierenden Rechts- bzw. Anspruchsgrundlage.

      Auslegung von Willenserklärung

      Nicht immer sind die Willensäußerungen der Bürger eindeutig und den Gebrauch rechtlicher Fachbegriffe kann und darf man von ihnen nicht erwarten. Deshalb sind Erklärungen der handelnden Personen mitunter auszulegen. Anders als bei der Definition von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. 3.3.2) geht es hier bei der Auslegung um die Deutung des Inhalts von Willenserklärungen.

      Ist z. B. der als „Eingabe“ bezeichnete Protest eines Bürgers als Widerspruch i. S. d. § 62 SGB X i. V. m. § 83 SGG/§ 68 VwGO zu werten? Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Dieser Grundsatz gilt über das Privatrecht hinaus. Im Sozialrecht ist eine Willenserklärung im Zweifel zugunsten des Bürgers auszulegen, im obigen Beispiel im Hinblick auf die „günstigeren“ Verfahrens- und Kostenregelungen als Widerspruch, sofern nur ersichtlich ist, dass der Bürger mit der Entscheidung nicht einverstanden und der Widerspruch überhaupt rechtlich zulässig ist.

      Nachdem man eine im Hinblick auf die Rechtsfolge geeignete Rechtsgrundlage herausgesucht hat, beginnt man mit der Prüfung der Tatbestandsseite der Vorschrift. Am Anfang steht die Identifizierung und Definition der einzelnen Tatbestandsmerkmale; hierbei müssen die Grenzen unbestimmter Rechtsbegriffe ggf. durch Auslegung bestimmt werden.

      Am Maßstab der so gewonnenen Definition der Tatbestandselemente sind dann die entsprechenden Umstände des Lebenssachverhaltes daraufhin zu prüfen, ob sie die einzelnen Begriffselemente und Bedingungen der Rechtsnorm erfüllen. Ist auch nur ein einziges Tatbestandselement nicht erfüllt, so greift die Rechtsfolge nicht ein, die Rechtsnorm ist auf diesen Sachverhalt nicht anwendbar. Am besten macht man es sich beim Lösen von Rechtsfällen zur Gewohnheit, nach dem Auffinden der einschlägigen Rechtsnorm zunächst Inhalt und Grenzen der einzelnen Tatbestandsmerkmale klar herauszuarbeiten, bevor man mit der Einordnung des Sachverhalts unter den Tatbestand – der Subsumtion im engeren Sinn – beginnt. Hierbei wird man feststellen, dass eine einzelne Rechtsnorm selten für die Beantwortung der Fallfrage ausreicht. Es müssen oft weitere Rechtsnormen herangezogen werden, die die Rechtsgrundlage ergänzen oder einen Anspruch konkretisieren, es müssen (insb. die vorhergehenden und nachfolgenden) Normen überprüft werden, die eine Ausnahme regeln oder einem Anspruch entgegenstehen (vgl. oben Definitions-, Verweisungs- oder Gegennormen). Hilfreich sind hierbei die sog. Aufbauschemata, die die relevanten Aspekte einer Fragestellung systematisch aufeinander beziehen (s. hierzu V-Anhang 4 ff.). Freilich dürfen diese Schemata nicht blind, sondern müssen durchdacht angewendet werden, damit nicht alle (auch die in einem konkreten Fall nicht relevanten) Aspekte stur abgearbeitet, sondern die Schwerpunkte im Fall angemessen gesetzt werden.

      Sind alle Tatbestandsmerkmale erfüllt, so ist festzustellen, welche Konsequenz daraus folgt, also welche Rechtsfolge damit verbunden ist. In Fällen der gebundenen Entscheidung (s. 3.4.1) steht die Rechtsfolge mit der Erfüllung des Tatbestands fest. In den Fällen der Ermessensverwaltung sind die erforderlichen Erwägungen zur Ausübung des Ermessens (s. 3.4.2) anzustellen und zu begründen.

      Bei der Anwendung der gängigen Bundes- und Landesgesetze (z. B. BGB, SGB, PsychKG, Schulgesetze) kann man in der Ausbildung davon ausgehen, dass diese ordnungsgemäß zustande gekommen und inhaltlich verfassungsgemäß sind. Wenn aber tatsächlich Anhaltspunkte für die Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit einer (abgeleiteten) Rechtsnorm vorliegen, sind diese am Maßstab höherrangigen Rechts zu überprüfen. Dies wird in aller Regel nur von (in der Ausbildung befindlichen) Juristen erwartet. Im Kollisionsfall geht das höherrangige Recht dem rangniedrigeren Recht vor, d. h. die rangniedrigere Norm ist nichtig, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstößt (z. B. Art. 31 GG). Bei Kollisionen gleichrangiger Vorschriften verdrängt das neuere Gesetz das ältere, die speziellere die allgemeine Norm.

      Arbeitsschritte

      Zusammenfassend beschrieben vollzieht sich der Vorgang der Subsumtion somit in folgenden fünf Schritten:

      1. Aufsuchen der einschlägigen Anspruchsgrundlage oder Rechtsgrundlage im Hinblick auf die „gewünschte“ Rechtsfolge. Für die Beantwortung einer Rechtsfrage sind sämtliche einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten. Grds. ist mit der rangniedrigsten und speziellsten Rechtsnorm (nicht Verwaltungsvorschrift!) zu beginnen. Merke: Ein Verwaltungsakt oder die Ablehnung einer Leistung darf niemals nur mit Hinweis auf eine Verwaltungsvorschrift erlassen bzw. abgelehnt werden.

      2. Zerlegung der einschlägigen Rechtsnorm in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, ggf. unter Heranziehung von Verweisungs- oder Gegennormen; Feststellung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen (x1, x2 …).

      3. Definition / Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, ggf. unter Heranziehung von Definitionsnormen: x1 bedeutet …, x2 bedeutet … Hieraus gewinnt man die rechtsmethodisch „Obersatz“ genannte Entscheidungsgrundlage.

      4. Feststellung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen: x1 ist erfüllt durch S1, x2 ist erfüllt durch S2 usw.

      5. Feststellung der Rechtsfolge Rn; bei Ermessensverwaltung Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessens (Zweckmäßigkeitsüberlegungen) hinsichtlich der Wahl des Mittels und