Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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      ■ das Gegensatzpaar „bestimmter / unbestimmter Rechtsbegriff“, dem auch die Fälle des Beurteilungsspielraums (als Sonderfälle des unbestimmten Rechtsbegriffs) zuzurechnen sind,

      ■ das Gegensatzpaar „gebundene Verwaltung / Ermessensverwaltung“.

      Bei unbestimmten Rechtsbegriffen stellt sich die Frage nach Inhalt und Grenzen einzelner Tatbestandselemente, die durch Auslegung näher bestimmt werden müssen. Das Ermessen betrifft die Frage, ob die Verwaltung bei Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes im Hinblick auf die Rechtsfolge einen gewissen, gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren Handlungsspielraum hat.

Unbestimmter RechtsbegriffErmessen
1. findet sich in fast allen Vorschriften des Öffentlichen und privaten Rechts;wird i.d.R. nur der öffentlichen Verwaltung eingeräumt; der Begriff wird i.d.R. nicht bei Privatpersonen verwendet (Ausnahme: §§ 315, 317 BGB), diese können im Rahmen der Gesetze frei entscheiden;
2. findet sich häufig auf der Tatbestandsseite einer Rechtsnorm, kann aber ggf. auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen;findet sich nur auf der Rechtsfolgenseite; Ermessen auf der Tatbestandsseite wäre mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar (Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes);
3. ist erkennbar an Formulierungen mit nicht eindeutigem Inhalt (z.B. Angemessenheit, erforderlich, Zuverlässigkeit, Gemeinwohl, Sicherheit und Ordnung, Gefahr);ist erkennbar an Formulierungen wie „kann“, „darf“, „ist befugt“ (sog. „Kann-Bestimmungen“ im Unterschied zu „Soll- und Muss-Bestimmungen“ bei den Fällen der gebundenen Verwaltung);
4. Unbestimmte Rechtsbegriffe erlauben nur eine richtige (rechtmäßige) Auslegung, die der uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung unterliegt; wichtig: Begründung!Ausnahme sind jedoch die unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum (grundsätzlich nur bei Prüfungsentscheidungen, Beamtenbeurteilungen und wertenden Entscheidungen pluralistischer Gremien), die nur einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung auf bestimmte Beurteilungsfehler unterliegen (insbesondere wenn von falschen Tatsachen ausgegangen wurde, sachfremde Erwägungen maßgebend waren oder wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes).Die Ermessenseinräumung erlaubt grundsätzlich (unter Beachtung des Gleichheits-, Sozialstaatsund Verhältnismäßigkeitsgebot) mehrere rechtmäßige Handlungsalternativen; wobei die Verwaltung die zweckmäßigste auszuwählen hat. Die Ausübung des Ermessens durch die Verwaltung unterliegt nur der eingeschränkten richterlichen Nachprüfung (§ 114 VwGO) auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensnichtgebrauch, Ermessensmissbrauch), wohl aber der vollständigen Überprüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit durch übergeordnete Verwaltungsinstanzen (deshalb auch hier wichtig: Begründung!).
5. Soweit überhaupt ein Beurteilungsspielraum anerkannt wird, ist dieser sehr eng, wenn besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) betroffen sind.Sog. „Ermessensschrumpfung“ (-reduzierung) auf Null liegt vor, wenn im Einzelfall im Hinblick auf besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) nur eine einzige Entscheidung als rechtmäßig angesehen werden kann.

      Bsp.: Ein Beamter wägt bei dem oben gegebenen Ermessensspielraum (30 € bis 60 €) entweder überhaupt nicht oder nur teilweise ab, weil er (ggf. aufgrund einer Verwaltungsvorschrift) fälschlicherweise meint, nur Gebühren in Höhe von 45 € auferlegen zu dürfen. Hier fehlt es an einer den Ermessensspielraum ausschöpfenden Pro- und Contra-Abwägung.

      ■ Ermessensmissbrauch, auch als Ermessensfehlgebrauch bezeichnet, der insb. dann gegeben ist, wenn die Behörde von dem Ermessen nicht in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht oder sonstige rechtsstaatliche Grundsätze bei der Ermessensausübung missachtet hat, z. B. sachwidrige Kriterien angewendet hat.

      Bsp.: Der Beamte ermäßigt die festzulegende Gebühr um die Hälfte, weil der Betroffene Angehöriger der Regierungspartei, ein Verwandter oder Freund ist oder weil er selbst an dem Tag einfach gut gelaunt ist. Der Ermessensmissbrauch umfasst alle Fälle, in denen sachfremde, d. h. normativ irrelevante Gesichtspunkte (vgl. insb. Art. 3 Abs. 3 GG) in die Ermessensentscheidung einfließen.

      Begründungspflicht

      Damit der Bürger als Adressat einer Verwaltungsentscheidung überprüfen kann, wie das Ermessen ausgeübt worden ist und ob die Grenzen der Ermessensbetätigung eingehalten worden sind, verpflichten § 35 Abs.1 SGB X/§ 39 Abs. 1 VwVfG die Verwaltung im Hinblick auf Ermessensentscheidungen ausdrücklich dazu, im Rahmen der ohnehin notwendigen Begründung eines (schriftlichen) Verwaltungsaktes die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte und damit die vorgenommene Abwägung transparent darzulegen.

      Ermessensschrumpfung

      Vom Grundsatz, dass im Rahmen der Ermessensbetätigung mehrere rechtmäßige Alternativen möglich sind, gibt es eine Ausnahme. In besonderen Fällen kann der Ermessensspielraum der Behörde derart schrumpfen, dass nur noch eine Handlungsalternative infrage kommt. Man spricht in diesem Fall von einer „Ermessensschrumpfung auf Null“. Ein solcher Fall liegt insb. bei einer erheblichen Gefährdung wesentlicher Rechtsgüter, vor allem Leben und Gesundheit, vor.

      Nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist das JA bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Minderjährigen zu einer Inobhutnahme des Minderjährigen (s. III-3.4.1) verpflichtet. Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nach § 42 Abs. 5 SGB VIII (nur) zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Kann aber die Lebensgefahr nicht anders als durch den vorläufigen Freiheitsentzug abgewendet werden, dann muss dieser vorgenommen werden. Ist die Jugendhilfe allerdings in der Lage, für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen auch in diesen außergewöhnlichen, extremen Situationen, ohne Einschließen durch „offene“ Angebote, z. B. durch eine (personal)intensive, sozialpädagogische Einzelbetreuung („Menschen statt Mauern“) zu sorgen, dann ist die geschlossene Unterbringung auch nicht erforderlich und damit unzulässig. Das JA hat differenziert und substantiiert zu begründen, warum Alternativen zur geschlossenen Unterbringung nicht ausreichen, nicht vorliegen oder geschaffen werden können.

      gerichtliche Kontrolle

      Von der Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung ist deren Zweckmäßig- bzw. -widrigkeit zu unterscheiden. Während die Sozial- und Verwaltungsgerichte nach § 54 Abs. 2 SGG/§ 114 VwGO nur die Einhaltung der Ermessensschranken nachprüfen, sind sie nicht zur Überprüfung befugt, ob die getroffene Ermessensentscheidung unter den gegebenen, rechtlich zulässigen Handlungsalternativen auch die zweckmäßigste war. Zur uneingeschränkten Überprüfung auch der Zweckmäßigkeit einer Entscheidung sind vielmehr die übergeordneten Verwaltungsinstanzen berufen, aufgrund ihres Aufsichts- und Weisungsrechts insb. im Rahmen eines Widerspruchverfahrens (vgl. § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO: Recht- und Zweckmäßigkeit; vgl. 5.2.1).

      Nach der vor allem im 19. Jahrhundert praktizierten, von ihren Gegnern abwertend als Begriffsjurisprudenz bezeichneten Rechtsdogmatik war man der Überzeugung, dass man jeden Fall rein begrifflich-logisch lösen könne. Die Jurisprudenz wurde überhöht gar als „Mathematik des Rechts“ (Rudolf v. Ihring 1865) bezeichnet. Wenn allerdings eine Auslegung nicht nur streng systematisch, sondern auch nach dem Sinn und Zweck der Norm vorgenommen wird, kann das Auslegungsergebnis nicht zwingend-logisch, sondern muss notwendig intentional und interessengerichtet sein. Auch die Analogie und der Umkehrschluss sind als gedankliche Schlüsse nicht zwingend-logisch, sondern nur mit Blick auf den Sinn und Zweck der Rechtsnormen verständlich zu machen. Im Rahmen der Abwägung geht es deshalb nicht nur um rein begrifflich-logische Ableitungen (Deduktionen) und Verknüpfungen, sondern gleichzeitig um wertende Entscheidungen (sog. Wertungsjurisprudenz). Das ist freilich wieder das Einfallstor für Sitte, Moral und Ideologien sowie partikulare Interessen (deshalb spricht man auch von Interessenjurisprudenz). Die sog. Freirechtsschule löste sich nahezu völlig von dem begrifflich-rechtssystematischen Denken und wollte die Rechtsfindung dem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden des einzelnen Richters überlassen. Freilich verliert damit das Recht seine überindividuelle,