Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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XII.

      Soll-Regelung

      Bei „Soll-Bestimmungen“ (Formulierungen wie „die Behörde soll …“, „hat in der Regel“, „grds. ist“) ist die Verwaltung im Regelfall an die vorgesehene Rechtsfolge gebunden (z. B. §§ 5 Abs. 2 S. 1, 16 Abs. 1, 19 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 SGB VIII; §§ 9 Abs. 2, 12 S. 1, 15 Abs. 1 SGB XII).Abweichungen sind nur im Ausnahmefall zulässig, d. h. bei Vorliegen besonderer atypischer Umstände. Diese atypischen Umstände müssen sich auf den Zweck der Regelung beziehen. Ausgeschlossen sind hier finanzielle Überlegungen, insb. ist die Finanzknappheit der Haushalte kommunaler oder sonstiger Sozialleistungsträger kein atypischer Grund, der einem Leistungsanspruch entgegenstehen könnte.

      Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen nach § 40 SGB I, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Nach § 38 SGB I besteht auf Sozialleistungen ein Anspruch, soweit nicht nach den besonderen Teilen des SGB die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über die Leistung nach ihrem Ermessen zu handeln.

      Ermessen

      Der Gesetzgeber kann die Verwaltung – anstatt ihr zwingend eine Rechtsfolge vorzuschreiben – auch ermächtigen (berechtigen und verpflichten), bei Erfüllung des Tatbestands innerhalb eines gewissen Handlungsspielraums die zweckmäßigste Regelung zu treffen. Diesen Entscheidungsspielraum nennt man Ermessen, das entsprechende Behördenhandeln Ermessensverwaltung. Der Grund für die Einräumung solcher Handlungsspielräume ist, dass der Gesetzgeber angesichts der Kompliziertheit und Unvorhersehbarkeit der Lebensverhältnisse nicht alle erforderlichen und angemessenen Rechtsfolgen vorherbestimmen kann und daher der Verwaltung die Möglichkeit einräumt, innerhalb bestimmter Grenzen flexibel auf die konkrete Situation zu reagieren. Zu unterscheiden ist dieses Verwaltungsermessen von den (politischen) Entscheidungsspielräumen der Exekutive beim Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen.

      Das Ermessen kann sich darauf beziehen, ob die Verwaltung überhaupt tätig werden soll (Entschließungsermessen), oder auch darauf, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen sie ergreifen und wer Adressat einer Verfügung sein soll (Auswahlermessen hinsichtlich des Mittels und des Adressaten). Rücknahme und Widerruf eines Verwaltungsaktes nach §§ 45 Abs. 1, 46 SGB X sind Fälle reinen Entschließungsermessens; bei der Festsetzung von Gebühren handelt es sich häufig um Auswahlermessen hinsichtlich der Höhe des Betrages innerhalb des gesetzlich vorgesehenen Rahmens; die Erteilung von Auflagen, z. B. im Hinblick auf eine Betriebserlaubnis (§ 45 Abs. 2 SGB VIII), ist ein Fall der Ausübung von Entschließungsermessen und gleichzeitig von Auswahlermessen hinsichtlich der konkreten Auflagen.

      Das der Verwaltung eingeräumte Ermessen betrifft immer nur die Rechtsfolge einer Rechtsnorm und ist daher stets nur Rechtsfolgeermessen (sog. volitives Ermessen); es kann und darf sich nie auf die Tatbestandsseite der Vorschrift beziehen. Ein Ermessen auf der Tatbestandsseite (sog. kognitives Ermessen) würde die verfassungsrechtlich gebotene Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes zerstören. Vom Ermessen zu unterscheiden ist der äußerst selten eingeräumte Beurteilungsspielraum der Verwaltung im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. 3.3.3 sowie Übersicht 14). Rechtsmethodisch folgt daraus, dass bei der Anwendung einer Vorschrift das Ermessen erst dann ausgeübt werden darf, wenn alle Tatbestandsmerkmale der betreffenden Vorschrift geprüft und bejaht worden sind. Es ist z. B. falsch, bei der Anwendung von § 42 SGB VIII zu prüfen, ob die Unterbringung eines Kindes in einer Einrichtung unverhältnismäßig ist, bevor man nicht festgestellt hat, ob überhaupt ein Rechtsgrund für eine solche Schutzmaßnahme (z. B. Gefahr für das Wohl des Kindes) vorliegt.

      Kann-Bestimmung

      Ob der Verwaltung Ermessen eingeräumt ist, kann man an den Formulierungen auf der Rechtsfolgenseite der Norm erkennen. Nicht immer wird der Begriff „Ermessen“ gebraucht (so aber z. B. in § 2 Abs. 2 SGB I; § 74 Abs. 3 S. 1 SGB VIII; §§ 17 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 1 S. 2 SGB XII). Ausdrücke wie „die Behörde kann …“, „darf …“, „ist befugt …“ oder „ist ermächtigt …“ sind ebenso Anzeichen für die Einräumung von Ermessen. Das Gleiche gilt, wenn Maßnahmen für „zulässig“ erklärt werden. Man spricht hier auch von sog. Kann-Bestimmungen, Beispiele: §§ 15 Abs. 2, 16 Abs. 1 S. 2 SGBII; §§ 11 Abs. 5 S. 4, 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII; §§ 13 Abs. 3 S. 1, 19 Abs. 1 S. 3, 32 S. 2 SGB VIII.

      Gelegentlich werden Muss- und Kann-Regelungen innerhalb einer Vorschrift kombiniert. So regelt z. B. § 21 SGB VIII den Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung und räumt der Verwaltung im Hinblick auf die Übernahme der Kosten der Unterbringung in einer geeigneten Wohnform ein Ermessen ein.

      Während bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe rechtsdogmatisch nur eine Definition maßgebend sein darf (s. 3.3.2) und es in den Fällen der gebundenen Verwaltung immer nur eine zulässige Entscheidung geben kann und dies von den Gerichten unbeschränkt geprüft wird, ist das in den Fällen der Ermessensverwaltung anders. Hier können grds. mehrere im Rahmen des Ermessensspielraumes liegende Handlungsalternativen rechtmäßig sein (z. B. bei einer Gebühr im gesetzlich vorgegebenen Rahmen von 100 € bis 500 € jeder innerhalb dieser Grenze liegende Betrag). Aus diesem Kreis der rechtmäßigen Alternativen hat die Verwaltung die im Einzelfall zweckmäßigste Rechtsfolge auszuwählen. Das Ermessen darf nicht beliebig, „frei“ und willkürlich ausgeübt werden. Vielmehr muss es stets pflichtgemäß vorgenommen werden; hierauf hat der Bürger einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I).

      pflichtgemäßes Ermessen

      Das bedeutet zunächst im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit, dass nicht die persönliche Meinung desjenigen, der die Norm anzuwenden hat, relevant ist, sondern es allein auf den gesetzlich mit der Rechtsnorm verfolgten Zweck ankommt (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB I, § 40 VwVfG). Wie dieser gesetzliche Zweck erfüllt werden kann, darf wiederum nicht von den individuellen Kompetenzen des Einzelnen abhängen, maßgebend sind die jeweiligen fachlichen Kriterien. Fachliche Standards (vgl. Jordan, ZfJ 2001, 48 ff.; Merchel 1998) sind deshalb nicht erst im Zusammenhang von Haftungsfragen (zur sog. Garantenstellung von Sozialarbeitern s. IV-2.2) zu entwickeln, sondern Orientierung und Richtschnur bei der alltäglichen Ermessensentscheidung (vgl. auch das sog. Fachkräfteprivileg, § 72 SGB VIII, § 6 Abs. 1 SGB XII).

      Im Übrigen müssen bei Ermessensentscheidungen die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Grundsätze des Verwaltungshandelns auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen beachtet werden, im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Ermessensverwaltung insb. die Grundrechte, das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG (s. 2.1.2.4), das Verhältnismäßigkeitsprinzip (s. 2.1.2.2) und das Gebot der sachgerechten Abwägung widerstreitender Interessen. Die Pflichtgebundenheit der Ermessensausübung kommt als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungshandelns ausdrücklich in § 39 SGB I, § 40 VwVfG zum Ausdruck, nach denen die Behörden nicht nur verpflichtet sind, das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung auszuüben, sondern auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Im Rahmen der Rechtskontrolle überprüfen die Gerichte nur die Einhaltung dieser Schranken (vgl. § 114 VwGO). Man unterscheidet rechtsmethodisch folgende Fehler, die zur Rechtswidrigkeit der Ermessensausübung führen:

      Ermessensfehler

      ■ Ermessensüberschreitung: Die Ermessensentscheidung liegt nicht mehr innerhalb des gesetzlich eingeräumten Rahmens, die Grenzen des Ermessens sind überschritten.

      Bsp.: Eine Verwaltung kann aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung eine Gebühr in Höhe von 30 € bis 60 € festsetzen, sie setzt aber 20 € oder 70 € fest. In beiden Fällen ist der Ermessensrahmen überschritten, einmal nach unten, einmal nach oben hin.

      ■ Ermessensmangel, auch Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung genannt: Hierbei findet eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Ausübung des Ermessens (überhaupt) nicht statt. Es mangelt an einer sachgemäßen Ermessensbetätigung.

      Die Begriffe „Ermessen“, „Beurteilungsspielraum“