Die entscheidungsbezogene Soziale Arbeit (zur Rechtsberatung s. u. 4.2) läuft in einem mehrstufigen normbezogenen Entscheidungsprozess (s. Übersicht 11) ab (Maas 1996, 21 ff.). Der Zugang erfolgt oft durch die Betroffenen, indem sie um Hilfe nachsuchen, sich informieren oder sogar einen „Antrag“ (vgl. § 16 SGB I, § 18 SGB X; hierzu III-1.2.2) stellen. Häufig ist die Sozialverwaltung aber auch verpflichtet, von sich aus tätig zu werden. In beiden Fällen muss sie die zu treffende Entscheidung vorbereiten.
Informationsgewinnung
Diese besteht im Wesentlichen aus der Gewinnung von Informationen als Entscheidungsgrundlage (Sachverhaltsermittlung) und aus der fachlichen Bewertung des Sachverhalts. Die Informationsgewinnung wirft zwei Fragen auf:
■ nach dem Inhalt der Sachverhaltsermittlung: Welche Daten sind entscheidungsrelevant? Insoweit geht es zunächst um die Auswahl der Rechtsgrundlage, auf der die Entscheidung beruhen soll (vgl. Gesetzesvorbehalt, s. o. 2.1.2.1), und damit der einzelnen entscheidungsrelevanten Bedingungen, die nach dem Gesetz erfüllt sein müssen, damit eine entsprechende Entscheidung gefällt werden kann, z. B. die Leistungsvoraussetzungen für eine erzieherische Hilfe nach § 27 SGB VIII oder für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 19 SGB XII.
■ nach dem Verfahren der Sachverhaltsermittlung. Wie müssen die Informationsermittlung und das Entscheidungsverfahren ablaufen? Welche Verfahrensschritte, welche Schutzrechte und insb. Mitwirkungspflichten der Betroffenen müssen im Rahmen der Entscheidungsfindung beachtet werden (z. B. Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X; Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I; Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII; Datenschutzrecht nach § 35 SGB I, §§ 67 ff. SGB X, §§ 61 ff. SGB VIII; zum Verwaltungsverfahren vgl. III-1.2)?
Beweislast
In der Praxis ist die Informations- und Sachverhaltsermittlung am schwierigsten, während man sich in der Studienphase darauf verlassen kann, dass in der Übung und Prüfung in einer Art Trockenschwimmen nur feststehende Sachverhalte vorgegeben werden. Während im öffentlichen Verwaltungsrecht und im Strafrecht der Sachverhalt grds. von Amts wegen zu ermitteln ist (sog. Offizialprinzip, Untersuchungsgrundsatz) besteht im Privatrecht der sog. Beibringungsgrundsatz, d. h. die an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien sind für die „Beibringung“ (Einführung) der dem Streit zugrunde liegenden Fakten verantwortlich. Hier wie dort versucht die Verwaltungs- und Rechtspraxis, umstrittene Tatsachen zu klären bzw. den „wahren“ Sachverhalt ggf. durch die Erhebung von Beweisen als Grundlage ihrer Entscheidungsfindung zu ermitteln. Grds. trägt immer derjenige die sog. Beweislast, der sich auf einen für ihn vorteilhaften Umstand beruft. In diesem Zusammenhang sollte allerdings beachtet werden, dass die Wahrnehmung bei jedem Menschen begrenzt ist. Sie ist auch kein passiver, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten (vgl. Maturana / Varela 1987). Es ist deshalb ganz normal, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen an ein und denselben Vorgang haben. Nicht zuletzt deshalb ist die Suche nach der „objektiven“ Wahrheit oft vergeblich. Die Soziale Arbeit, deren Aufgabe es vornehmlich ist, die Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu stärken, stützt sich deshalb methodisch eher auf konstruktivistische Ansätze (vgl. hierzu auch die Mediation, 6.3). Dort, wo ein Dritter entscheiden muss (sei es im Rahmen eines Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahrens), lässt sich aber auf die Sachverhaltsermittlung und ggf. Beweisführung nicht verzichten.
Informationsbewertung
In der „theoretischen“ Ausbildungssituation erhalten die Studierenden einen als wahr unterstellten (unstrittigen) und abschließenden Sachverhalt. Hier darf nichts angezweifelt oder dazuspekuliert werden. Ausbildungsgegenstand ist zunächst das Erlernen der juristischen Arbeitsmethodik, die Methode der Rechtsanwendung, der Umgang mit Rechtsnormen im Rahmen der Informationsbewertung. Das entspricht auch dem korrekten Vorgehen der Rechtspraxis, insb. der Gerichte, in strittigen Sachverhalten. Die sachgemäße rechtliche Bearbeitung eines Falles (insb. der Frage: Was ist für die Entscheidungsfindung rechtlich überhaupt relevant?) erspart die u. U. aufwendige Beweiserhebung umstrittener Tatsachen, die für die abschließende Entscheidung letztlich rechtlich überflüssig sind. Auch die Informationsbewertung umfasst zwei Aspekte:
■ stets die Bewertung in rechtlicher Hinsicht (Subsumtion)
■ sehr häufig die Bewertung in fachlich-sozialpädagogischer Hinsicht, insb. die Diagnose und Prognose, z. B.: Was ist eine erzieherische Mangelsituation im Sinne der Leistungsvoraussetzungen der Erziehungshilfen nach § 27 SGBVIII? Welche Hilfe ist die „richtige“ (= geeignet und erforderlich) i. S. d. § 27 SGB VIII?
Fachkräfteprivileg
Beide Ebenen, sozialpädagogische Bewertung und rechtliche Subsumtion, sind oftmals untrennbar miteinander verknüpft (z. B. abstrakt-definitorische Ausfüllung des Begriffs „erzieherischer Bedarf“ in § 27 Abs. 2 SGB VIII sowie die Anwendung der Definition im konkret zu entscheidenden Einzelfall). Die rechtliche Bewertung baut einerseits auf der fachlich-diagnostischen Bewertung auf; andererseits darf sich jene in diesem justiziablen Zusammenhang nur auf die rechtlich vorgegebenen, relevanten Kriterien beziehen (im Hinblick auf § 27 SGB VIII z. B. Relevanz der Begriffe „erzieherischer Bedarf“ und „Kindeswohl“, nicht aber andere denkbare Maßstäbe, z. B. Einkommen, Kinderzahl). Im Rahmen der Subsumtion werden die rechtlich relevanten Kriterien und der Sachverhalt aufeinander bezogen, der Sachverhalt wird im Hinblick auf seine rechtliche Relevanz überprüft. Auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung und Durchführung der konkreten Leistung wirken rechtliche Kriterien weit in den Hilfeprozess hinein. Hilfe als Rechtsverhältnis führt allerdings nicht zu einer Verdrängung der außerrechtlichen, insb. der sozialpädagogischen Aspekte Sozialer Arbeit. Es ist gerade ein Element der Fachlichkeit, die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls sozialarbeiterisch-methodisch zu erfassen, diese bewusst in den Beratungs- und juristischnormativen Entscheidungsprozess einzubringen und dabei insb. Entscheidungsalternativen zu erkennen. Hingewiesen sei hier auf das sog. Fachkräfteprivileg gemäß § 72 SGB VIII und § 6 SGB XII, nach dem die Sozialleistungsgesetze von Fachkräften durchzuführen sind, um zu gewährleisten, dass die nach fachlicher Prüfung im Einzelfall als notwendig festgestellte Jugendhilfe bzw. Sozialhilfe geleistet wird. Es sind also die sozialpädagogischen Fachkräfte, die die Umsetzung des Gesetzeswillens, insb. die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. u. 3.3.2) und Ermessensspielräumen (s. u. 3.4.1) vornehmen müssen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Entscheidungen der Sozialbehörden, sondern auch für die fachlichen Stellungnahmen im Rahmen gerichtlicher Verfahren (z. B. §§ 50 – 52 SGB VIII).
3.2 Struktur der Rechtsnormen
3.2.1 Tatbestands- und Rechtsfolgenseite
Tatbestandsmerkmale
Eine sog. vollständige Rechtsnorm ist zweigliedrig aufgebaut: Sie besteht aus einer Tatbestands- und einer Rechtsfolgenseite.Auf der Tatbestandsseite der Rechtsnorm werden die einzelnen Bedingungen (die sog. Tatbestandselemente, -voraussetzungen oder -merkmale) aufgezählt, die erfüllt sein müssen, damit die in der Vorschrift genannte Konsequenz (Rechtsfolge) eintritt. Nicht selten werden nicht die Tatbestandsvoraussetzungen, sondern die Rechtsfolge zuerst genannt (z. B. § 42 SGB VIII: Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, wenn …). Auch wenn die zweigliedrige Struktur der gesetzlichen Tatbestände nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennbar ist, so lässt sich doch jede vollständige Rechtsnorm auf die geschilderte Weise in eine Tatbestands- und Rechtsfolgenseite (Wenndann-Relation) zerlegen. Art. 16a Abs. 1 GG: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ beispielsweise lässt sich als Wenn-dann-Relation formulieren: Wenn jemand politisch verfolgt ist (= Tatbestandselement), dann wird ihm Asyl gewährt (= Rechtsfolge). In Anlehnung an logisch-systematische Denkprozesse wird die Struktur von Rechtsnormen häufig mit Gleichungen dargestellt (x1 + x2 + x3 => R1), die mitunter komplexe Verschachtelungen und „Ketten“ beinhalten (s. Übersicht 12).
ungeschriebene Tatbestandsmerkmale
Teilweise werden einzelne