Die wesentlichen Funktionen des Rechtsstaats gehen aus heutiger Perspektive über die Gewährleistung der persönlichen Freiheit hinaus und liegen in der Strukturierung des Gemeinwesens und seiner wesentlichen öffentlichen Institutionen (Ordnungsfunktion), in dem Grenzziehungsauftrag zum Schutz der Bürger (Herrschaftskontrolle, insb. Schutz der „Schwächeren“, z. B. Minderheiten und Benachteiligten, vor den Mächtigeren) sowie – im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip – dem Auftrag zur Chancenermöglichung (Emanzipation und Aktivierung) zur Gewährung gesellschaftlicher Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn sich die Idee des Rechts an der Gerechtigkeit orientiert, kann dieses Ziel immer nur ansatzweise erreicht werden, da im Widerstreit gesellschaftlicher und privater Interessen optimal nur ein fairer Interessenausgleich geleistet werden kann (hierzu 1.2).
Allerdings wird der Rechtsstaat immer wieder bedroht, insbes. auch nicht selten durch politischen Extremismus und Terror. Möglicherweise nicht so offensichtlich sind aber die Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit durch Initiativen, die sich zu seiner Verteidigung berufen fühlen. Gerade aus Anlass von Terrorakten und schwersten Straftaten ertönt immer wieder in einem simplen „politischen Reiz-Reaktion-Mechanismus“ der Ruf nach schärferen (Straf-)Gesetzen und Ermittlungsmaßnahmen (s. IV-1.3), wird die Einschränkung von Bürgerfreiheiten (z. B. Datenschutz, s. III-1.2.3) zugunsten einer vermeintlich erhöhten Sicherheit gefordert. „Der Rechtsstaat wird es auf Dauer sicher nicht ohne Schaden überstehen, wenn er unablässig und fälschlich zum Hindernis bei der Bekämpfung des Terrors erklärt wird“ (Janisch 2016b, 4). Umgekehrt erweist sich der Rechtsstaat gerade im Umgang mit seinen Anfeindungen.
2.1.2.1 Bindung an Recht und Gesetz
Art. 20 Abs. 3 GG
Wesentlich für einen Rechtsstaat ist, dass die Macht des Staates nicht grenzenlos, sondern rechtlich gebunden und demokratisch legitimiert ist. Dies gilt insb. im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, deren vom Staat anerkannte (nicht verliehene) Menschen- und Grundrechte die individuellen und sozialen Freiheitssphären umschreiben (Art. 1 –19 GG), in die der Staat nur unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen eingreifen darf. Der Bürger ist nicht Untertan, sondern er verfügt über verfassungsrechtlich anerkannte Rechte und Pflichten. Greift die Exekutive in die Rechtsstellung des Bürgers ein, so muss er die Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen von unabhängigen Gerichten überprüfen zu lassen. Kernelement des Rechtsstaats ist also die Bindung der „hoheitlichen“ Gewalt (insb. auch der Sozialverwaltung) an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 f. GG).
Vorrang des Gesetzes
Aus dem Grundsatz, dass alles staatliche Handeln an Recht und Gesetz gebunden ist (Gesetzmäßigkeit), lassen sich zwei wesentliche Regeln ableiten, die insb. für die (Sozial-)Verwaltung von Bedeutung sind: Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Aus dem Vorrang des Gesetzes ergibt sich, dass jede Verwaltungsmaßnahme mit den geltenden Rechtsnormen im Einklang stehen muss, also nicht gegen gültige Rechtssätze verstoßen darf. Deshalb muss die Verwaltung, müssen die Sozialarbeiter das Grundgesetz, insb. die darin enthaltenen Grundrechte, sowie die Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen kennen und dürfen gegen diese Rechtsnormen nicht verstoßen. Ein vom Gesetz abweichendes Handeln ist rechtswidrig. Die fachlichen Standards der Sozialen Arbeit bestimmen sich ganz wesentlich durch rechtliche Regelungen.
Im Rahmen einer Inobhutnahme hat das JA die Eltern „unverzüglich“ zu unterrichten und mit ihnen gemeinsam das Gefährdungsrisiko abzuschätzen (§ 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII; im Einzelnen III-3.4.1.1). Überredet ein Sozialarbeiter einen 16-jährigen Jugendlichen, der über seine autoritären Eltern klagt, ohne Abklärung mit den Eltern zu einem Umzug in eine Wohngemeinschaft, verstößt dies gegen Art. 6 GG, §§ 1631 ff. BGB sowie §§ 1 Abs. 2, 8a Abs. 1, 9 Ziff.1, 27 ff. bzw. 42 SGB VIII.
Privatautonomie
Soweit keine Rechtsnormen vorliegen, besteht für alle Bürger Handlungsfreiheit. Sie dürfen tun und lassen, was sie wollen, solange sie nicht gegen Rechtsnormen verstoßen. Im Rechtsverkehr der Bürger spricht man insoweit von Privatautonomie, im Hinblick auf Verträge gilt die Vertragsfreiheit (§ 311 BGB, hierzu II-1), d. h. solange die gesetzlichen Regelungen eingehalten werden (z. B. keine rechtswidrigen und sittenwidrige Geschäfte, §§ 134, 138, 242 BGB; Einhaltung von Formvorschriften, §§ 126 ff. BGB; Schutz vor unangemessener Benachteiligung oder mehrdeutigen und überraschenden Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, §§ 305 ff. BGB; Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, § 312 BGB; zu den Vorschriften zum Verbraucherschutz vgl. II-1.3.1), können die Vertragsparteien ihre Verträge frei gestalten.
Vorbehalt des Gesetzes
Die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der Gesetze besteht zwar für den Bürger, nicht aber für den Staat und andere öffentliche Träger. Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes knüpft an das Demokratiegebot an und besagt, dass der Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, selbst entscheiden muss und nicht der Verwaltung zur Entscheidung überlassen darf (BVerfG NJW 1976, 34; 1976, 1309; 1979, 359). Wesentliche Maßnahmen sind also nur rechtmäßig, wenn sie auf einer (ausreichenden) gesetzlichen Grundlage ergehen (Gesetz oder mit gesetzlicher Ermächtigung erlassene Rechtsnorm; nicht ausreichend ist hingegen eine Verwaltungsvorschrift) und die Grundrechte nur im zulässigen Umfang einschränken. Damit sollen einerseits Willkür und unkontrollierte Eigengesetzlichkeiten verhindert, andererseits die Berechenbarkeit der Verwaltung und die Gleichbehandlung der Bürger verbessert werden. Wesentliche Maßnahmen in diesem Sinne sind:
a) Eingriffe in die Rechts- und Freiheitssphäre einer natürlichen oder juristischen Person, d. h. Maßnahmen, die zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen verpflichten bzw. ein Recht entziehen oder einschränken. Dies betrifft also nicht nur kontrollierende Maßnahmen der Polizei, sondern alle in die Rechtsstellung der Bürger eingreifenden Maßnahmen öffentlicher Verwaltungsträger (z. B. auch Inobhutnahme oder Gebührenerhebung durch das JA; zum Kopftuchverbot ohne gesetzliche Grundlage s. BVerfG 2 BvR 1436 / 02 v. 24.09.2003). So ist z. B. auch jede Erhebung und Speicherung von personenbezogenen Daten und ihre Mitteilung an Dritte ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. das sog. Volkszählungsurteil des BVerfG v. 15.12.1983 – E 65, 1; hierzu III-1.2.3). Auch innerhalb sog. Sonderrechtsverhältnisse (z. B. Strafvollzug, geschlossene Unterbringung) bedürfen weitere, über das Grundverhältnis hinausreichende Beschränkungen der Grundrechte (z. B. Briefzensur, beschränkte Nutzung von Medien) einer gesetzlichen Grundlage (BVerfGE 33, 1 ff. = NJW 1972, 811; BVerfG 2 BvR 1673 / 04 – 31.05.2006 – ZJJ 2006, 193 ff. zum Jugendstrafvollzug). Ein Eingriff liegt immer dann vor, wenn grundrechtlich geschützte Rechtspositionen nicht unerheblich beschränkt werden (vgl. z. B. im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG die Einführung der Sexualerziehung in der Schule, BVerwG NJW 1975, 1181).
Die Polizei darf Wohnungen, z. B. das Wohnheim eines freien Trägers, nur dann betreten und durchsuchen, wenn und soweit ihr dies durch Art. 13 GG und die einschlägigen Vorschriften der Polizeigesetze der Länder gestattet ist (grds. nur auf Anordnung des Amtsrichters, nur zur Abwendung einer gemeinen Gefahr, einer Lebensgefahr für einzelne Personen oder zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; vgl. z. B § 25 ThürPAG).