Erkennbar erhebt auch ein solches Gerechtigkeitskonzept nicht den Anspruch einer universellen Gültigkeit (Hofmann 2000, 210), sondern bezeichnet vielmehr präzise, welche Gleichheitsaspekte in der modernen westlich-kapitalistischen Gesellschaft Berücksichtigung finden sollen und welche nicht. Es verweist dabei im Übrigen implizit auch auf die Grenzen und Defizite marktförmiger Gesellschaftssteuerung, insofern es nämlich z. B. diejenigen, die überhaupt keinen Tauschwert in den gesellschaftlichen Austauschprozess einzubringen vermögen – etwa: arbeitsunfähige Behinderte, dauernd Beschäftigungslose, Nichtsesshafte, Kinder – schlicht ausblendet. Insgesamt – mit ihren produktiven Fragestellungen wie mit ihren blinden Flecken – steht jedenfalls auch diese Gerechtigkeitskonzeption dafür, dass der kategoriale Inhalt von (sozialer) Gerechtigkeit keineswegs einmal vorgegeben und von da an für alle Zeiten feststehend ist. Zwar wird er sich im Kern immer über Gleichheitsfragen bestimmen lassen müssen; welche Gleichheits- bzw. Ungleichheitsverhältnisse jedoch innerhalb eines konkreten sozialen Zusammenhanges, einer konkreten Gesellschaft jeweils als gerechtigkeitsrelevant ausgemacht werden, ist damit, wie auch hier deutlich werden konnte, allerdings noch längst nicht entschieden. Oder, um es in den Worten des amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer zu sagen: „Gerechtigkeit ist ein menschliches Konstrukt; und es steht keineswegs fest, dass sie nur auf eine einzige Weise hergestellt werden kann“ (Walzer 1994, 30).
1.2.4 Juristische Gerechtigkeit
Die soziale Dimension von Gerechtigkeit weist also deutlich über rechtliche Fragestellungen im engeren Sinn hinaus und begrenzt zugleich deren soziale Wirkungsmacht. Dennoch kommt dem Recht, wie eingangs gesehen, eine Schlüsselstellung innerhalb der Gerechtigkeitsproblematik zu. Denn die unterschiedlichen Möglichkeiten, Gerechtigkeit zu begreifen, d. h. also aus den realen gesellschaftlichen Ungleichheitsrelationen heraus Maßstäbe der Gleichheit und der Gleichbehandlung zu formulieren, sind im Recht in der Gleichheit der Person auf ihre abstrakteste Ausdrucksmöglichkeit zurückgeführt.
Einzelfallgerechtigkeit
Für die gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts, die gelebten rechtlichen Beziehungen (also etwa die Beziehungen zwischen Vertragspartnern, zwischen Schadensverursacher und Geschädigtem oder zwischen Behörde und Leistungsbezieher) bedeutet dies, dass in ihr der Gerechtigkeitsgedanke unter einem stark formalisierten Aspekt abgehandelt ist. Daran ändert sich auch prinzipiell nichts, wenn wir die sehr abstrakten Ebenen der Gleichstellung der Individuen als Rechtspersonen, z. B. als Staatsbürger, als Eigentümer oder bei der Abgabe einer Willenserklärung verlassen und bestimmte Kategorisierungen der Rechtsbeteiligten vornehmen: als Wahlberechtigte, ArbN, Verbraucher, Bezieher von Sozialleistungen, Verheiratete o. Ä. Stets neigen wir dazu, im rechtlichen Sinne immer genau dann von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn innerhalb ein und derselben Kategorie für alle die gleichen Regeln zur Anwendung kommen. Jene abstrakte, formale Gerechtigkeit ist demnach „ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen“ (Perelman 1967, 28). Mit anderen Worten kann sich auch die Betrachtung des Einzelfalles, sofern sie unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten erfolgen soll, stets nur an der allgemeinen Norm orientieren. In rechtsphilosophischer Hinsicht hiervon zu unterscheiden wäre dann die Billigkeit, die, freilich auch in einer Weise, die letztlich wieder verallgemeinerbar sein muss, ihre rechtliche Bewertung unmittelbar an-hand des Einzelfalles, d. h. auch unter Berücksichtigung seiner Besonderheit, vielleicht sogar Einmaligkeit, abgibt. Insofern kann man mit Radbruch die Billigkeit als die Gerechtigkeit des Einzelfalles bezeichnen (Radbruch 1932, 37).
gerechtes Recht
Jedoch ist Recht nicht nur normativer Ausdruck, sondern zugleich auch Regulator und damit Gestalter sozialer Beziehungen. Sollen diese dem Anspruch der Gerechtigkeit standhalten, so muss auch das Recht imstande sein, seinerseits die Gerechtigkeitsanforderungen zu erfüllen. Grundlegend hierfür ist, dass die Regeln des Rechts selbst als gerecht gelten können. Damit ist nicht mehr und nicht weniger als das Problem des richtigen Rechts bezeichnet, womit wir innerhalb dieses kleinen Gerechtigkeitsexkurses wieder zu unserer rechtsphilosophischen Ausgangsfrage zurückgelangt sind. Beantwortet werden kann sie auf ganz unterschiedlichen theoretischen Ebenen. Für Kant etwa ist das richtige Recht dann gegeben, wenn der eigene freie Wille zugleich „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze (… der Freiheit – wäre noch zu ergänzen, wenn man dem Text Kants in dieser knappen Wiedergabe gerecht werden will, d. Verf.) bestehen könne“ (Kant 1797, 338). Das ist zugegebenermaßen wiederum sehr abstrakt. Dennoch ist damit zumindest schon einmal klargestellt, dass – normativ gesprochen – nicht alles, was in Geschichte und Gegenwart in der Form des Rechts auf uns gekommen ist, auch schon notwendigerweise als gerecht angesehen werden muss. In die Wirklichkeitsperspektive des Rechts gewendet bedeutet das, dass soziale Verhältnisse nicht schon deshalb für sich in Anspruch nehmen können, gerecht zu sein, weil sie in der Form des Rechts gesellschaftlich etabliert wurden. Ganz im Gegenteil kann und muss das Recht selbst auch unter Gerechtigkeitsaspekten legitimer Gegenstand der Kritik, notfalls auch des sozialen Protestes sein, wie dies etwa als Reaktion auf die europäische Finanzkrise der letzten Jahre, die sich in verschiedenen europäischen Ländern zu einer sozialen Krise ausweitete, tatsächlich zu beobachten war.
Freilich wird sich die Frage, ob Regeln als gerecht bezeichnet werden können oder nicht, in praktischer Weise kaum von der von Kant besetzten Abstraktionshöhe herab entscheiden lassen. Die juristischen Gerechtigkeitsfragen im engeren Sinn bleiben hier noch einigermaßen unproblematisch und blass. Ihre eigentliche soziale Sprengkraft entwickeln sie erst dann, wenn das allgemeine Diktum der Gleichbehandlung konkretisiert wird. In dem bereits erwähnten Ansatz von Chaim Perelman etwa wird die Gerechtigkeit juristischer Regeln davon abhängig gemacht, ob die Kriterien für die unterschiedlichen Kategorien, innerhalb derer die Menschen gleich behandelt werden, von hinreichender sozialer Relevanz sind und ob die Zuordnung zu ihnen sachlich begründet vorgenommen wurde (Perelman 1967, 119).
Solche Kategorien sind z. B. auf das Arbeitsrecht (vgl. V-3.1) bezogen: ArbGeb, ArbN, leitende Angestellte, andere arbeitnehmerähnliche Personen, Frauen, Schwangere, Behinderte, Jugendliche, Betriebsräte, Gewerkschaftsmitglieder, ArbN in Kleinbetrieben, ArbN in Tendenzbetrieben, befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, Leiharbeiter, Beschäftigte auf Probe, Beschäftigte je nach unterschiedlicher Dauer der Betriebszugehörigkeit. Für sie alle gelten, je nach Kategorisierung, unterschiedliche Regeln, nach denen sie gleich behandelt werden. Zwischen den einzelnen Gruppen hingegen ist eine Ungleichbehandlung innerhalb des großen Rechtsstoffes „Arbeitsrecht“ möglich, ohne dass deshalb notwendigerweise Gerechtigkeitsgrundsätze verletzt würden.
gerechte Rechtsordnung
Erst unter der Voraussetzung eines in diesem Sinne gerechten Rechts kann der schon auf Aristoteles zurückgehende Satz gelten, wonach die Verletzung einer Regel des Rechts ein Akt der Ungerechtigkeit, die Wiederherstellung ihrer Geltung demnach der grundlegende Vorgang der Herstellung rechtlicher Gerechtigkeit sei. Jedoch bleibt auch eine solche Aussage formal, und zwar in dem Maße, in dem die Regelgerechtigkeit