Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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dass in einer bestimmten Situation keineswegs immer nur eine Entscheidungsmöglichkeit zu Kategorisierung und Zuordnung vorstellbar ist. Deshalb lässt sich auch eine gerechte Rechtsordnung insgesamt wieder nur auf eine derart abstrakte Weise beschreiben, wie uns dies bereits bei Kant begegnet ist. Konkret werden die Fragen nach einer gerechten Rechtsordnung hingegen erst dann, wenn die interessengeleiteten Wertungen wieder mit in den Blick genommen werden. Geschieht dies aber, dann steht auch die gerechte Rechtsordnung sofort wieder in einem Spannungsverhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Abstrakt kann und muss man daher den Rechtsstaat sehr wohl als Ausdruck und Symbol der gerechten Rechtsordnung begreifen. Werden jedoch die konkreten Bewertungsvorgänge mit in den Blick genommen, dann mag das Rechtsstaatsprinzip zwar immer noch für das Versprechen der Gerechtigkeit stehen. Nach Beispielen und Belegen dafür, wie wenig man aus ihm jedoch eine Garantie für Gerechtigkeit ableiten kann, wird man auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des demokratischen und sozialen Rechtsstaates leider nicht allzu lange suchen müssen (z. B. zum Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot im „Fall“ Gustl Mollath s. 2.1.2.2).

      Gerechtigkeit im Rechtsverkehr

      Das Verhältnis zwischen abstraktem Gleichheitssatz und konkreter Zuordnungsentscheidung nach den Regeln des Gleichheitssatzes setzt sich auch im Rechtsverkehr zwischen den Rechtspersonen, etwa bei der vertraglichen Gestaltung von Rechtsbeziehungen, fort. Zwar treffen in ihm zunächst in ihrer Willensbildung autonome Partner aufeinander, sodass der allgemeine Grundsatz der Vertragstheorie insoweit zugleich ein Gerechtigkeitspostulat ist: volenti non fit iniuria, was zu Deutsch etwa heißt, dass einem willentlich Zustimmenden eben deshalb, weil er aus freiem Willen zustimmt, auch kein Unrecht erwachsen kann. Nur eine Folge dieses Grundsatzes ist das einem größeren, auch nichtjuristischen, Publikum geläufige pacta sunt servanda (dt.: Verträge sind einzuhalten). Die Hauptelemente der Verkehrsgerechtigkeit betreffen deshalb vor allem den Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit. Jedoch ist der grundlegende Gedanke der Privatautonomie (vgl. II-1.3) an die stillschweigende soziale Voraussetzung des Rechts gebunden, dass der mit einem freien Willen ausgestattete Mensch zugleich auch über die sozialökonomischen Voraussetzungen autonomer Willensentscheidungen verfügt (hierzu Sinzheimer 1930, 50 f.). Genau dieses Gefüge ist aber spätestens dann aus dem Lot, wenn sich das Fiktionale dieser Voraussetzung als reales Ausgeliefertsein an sachliche Abhängigkeitsverhältnisse zeigt und sich der Einzelne unversehens einer faktisch überlegenen Regelungs- und Verfügungsmacht seines Vertragspartners gegenübersieht. Hierauf verweist auch Max Weber, wenn er schreibt (1921, 439):

      „Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen und garantiert ihm an sich auch keinerlei Einfluß darauf.“

      Nicht nur im Arbeitsrecht (IV-3), sondern auch im Mietrecht, im Verbraucherrecht und in vielen anderen Rechtsgebieten können derartige Situationen entstehen (vgl. II-1.3). Deshalb werden sich auch zur Verkehrsgerechtigkeit die wirklich schlüssigen Antworten erst wieder aus der Analyse der Klassifikationen von entsprechenden Kategorien und der Beurteilung der jeweiligen Zuordnungen zu ihnen ableiten lassen.

      Verfahrensgerechtigkeit

      Auch hinsichtlich der Verfahrensgerechtigkeit, also der gerechten Abwicklung rechtlicher Prozesse (Straf-, Zivil-, Familien-, Arbeits-, Verwaltungs- und andere Prozesse) lässt sich an Rawls Gerechtigkeitstheorie anknüpfen. Der verfahrensbezogene Aspekt seines „Justice as Fairness“ ist sowohl aus strafrechtstheoretischer (vgl. Hörnle 2004; hierzu IV-4.1) als auch konstruktivistisch-methodischer Sicht (vgl. I-6) bedeutend. Für John Rawls war ein faires Verfahren die Grundlage für die Gerechtigkeit und das Recht schlechthin, ein Ansatz, der sich im angelsächsischen Recht des Common Law stärker als in kontinentaleuropäischen Civil-Law-Rechtsordnungen wiederfindet. Nach dem Fairnessparadigma ist die Gewährleistung eines fairen Verfahrens für die Gerechtigkeit konstitutiv – Gerechtigkeit wird, wenn überhaupt, im demokratisch dialogischen Verfahren hergestellt. Rawls beschränkte sich aber nicht auf ein funktionalistisches Verfahrensprinzip (s. o. „Legitimation durch Verfahren“), vielmehr betrifft Verfahrensgerechtigkeit im Wesentlichen den Grundsatz der „Waffengleichheit“ im Verfahren. Dies kann man z. B. im Strafprozess von den Verteidigungsrechten des Beschuldigten bzw. Angeklagten bis hin zu den gesetzlichen Beweisverwertungsverboten verfolgen. Die bekannteste Maxime der Verfahrensgerechtigkeit ist das audiatur et altera pars, d.h. der Grundsatz, in einem Verfahren beide Seiten zu hören (verfassungsrechtlich geregelt als Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG). Weitere Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit sind vor allem im Strafrecht (vgl. IV-1.3 u. IV-5.1) zu finden, so z. B. das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot im Strafrecht bzw. das Verbot der rückwirkenden Bestrafung (nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege) oder auch das Verbot der doppelten Bestrafung für ein und dieselbe Tat (ne bis in idem), Art. 103 Abs. 2 u. 3 GG.

      Strafgerechtigkeit

      Die Strafgerechtigkeit betrifft eine vielleicht auch eine nicht juristische Öffentlichkeit in besonderer Weise interessierende und zugleich besonders kontrovers verhandelte Perspektive von Gerechtigkeit. Debatten wie etwa die um die Angemessenheit der Sanktionen im Jugendstrafrecht oder um die Strafverschärfung für Sexualstraftaten (s. o.) belegen dies. Ihre Schärfe gewinnen sie dadurch, dass offensichtlich gerade hier Werturteile aufeinanderprallen, die deshalb vergleichsweise weit auseinanderliegen, weil die sozialen Grundannahmen, aus denen sie sich herleiten, entsprechend stark differieren. Diese betreffen im Wesentlichen den Zweck der Strafe, der in der Vergeltung begangenen Unrechts oder in dem Gedanken der Resozialisierung und der Erziehung des Täters liegen oder der auf die abschreckende Wirkung von Strafen abzielen kann (vgl. hierzu im Einzelnen unter IV-2.3). Die Annahme von Strafgerechtigkeit hängt daher zum einen davon ab, welcher der genannten Strafzwecke über eine aktuell ausgeprägte soziale Plausibilität verfügt und zum anderen davon, inwieweit dann der konkrete Strafausspruch diesem Strafzweck in angemessener Weise Geltung verschafft. Seit Mitte der 1980er Jahre hat das mit Restorative Justice („Wiederherstellende Gerechtigkeit“) bezeichnete Gerechtigkeits- und Fairnesskonzept, nach dem das aus der Begehung von Unrecht erfahrene Leid so weit wie möglich ausgeglichen werden soll (Wiedergutmachung), die traditionelle Strafzwecklehre (Vergeltung vs. Resozialisierung) herausgefordert, ohne diese allerdings in der Praxis überwinden zu können (hierzu Trenczek 2014; s. IV-4.1).

      Die permanenten Relativierungen, denen jeder einzelne der hier behandelten Gerechtigkeitsaspekte unterworfen werden musste, mögen für den einen eine Bestätigung einer bereits vorhandenen Aversion, für den anderen eine Enttäuschung sein. Notwendig wurden sie jedes Mal, weil es sich bei der Gerechtigkeit um eine Kategorie handelt, deren Wesensgehalt zwar eine starke ethisch rückgebundene Zentrierung um Gleichheits- und Gleichbehandlungsfragen ausmacht, deren jeweilige konkrete inhaltliche Bestimmung jedoch je nach interessengeleitet-wertendem Blickwinkel ausfällt. Wer also an eine „absolute“ Gerechtigkeit glauben will und sie definiert haben möchte, der muss auf die naturrechtlich geprägte Annahme universeller Normen, deren Geltung sich unabhängig von menschlicher Einflussnahme auf sie vorstellen ließe, verwiesen werden (vgl. 1.1.2). In der Realität des Rechts hingegen – der gelebten wie der normativen – muss „absolute“ Gerechtigkeit ein Widerspruch in sich bleiben. Denn zwischen Gerechtigkeit und positivem Recht besteht ein permanentes potenzielles Spannungsverhältnis. In ihm ist – außer in den nach Radbruch besonders zu beurteilenden Fällen, wo Recht in einem unerträglichen Gegensatz zur Gerechtigkeit steht oder aber den Kern der Gerechtigkeit, die Gleichheit, bewusst verleugnet (1.1.2) – der Geltung des positiven Rechts, der Rechtssicherheit also, Vorrang einzuräumen (Radbruch 1932, 73 ff.). In einem modernen Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland wird dieses Spannungsverhältnis zwar zunächst auf den verschiedensten Ebenen demokratischer Diskurse und judikativer Interpretationen prinzipiell bearbeitet werden können (vgl. auch Dreier 1991, 37); dennoch wird man von Richtern, übrigens ebenso wie von Sozialarbeitern, die für eine Behörde tätig sind, erwarten müssen, dass sie auch dann, wenn sie normative Vorgaben subjektiv als