Grundzüge des Rechts. Thomas Trenczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Trenczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846387269
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Gerechtigkeitsfragen in derartiger Weise gewendet, kann man in sie allerdings auch dann analytische Schärfe und damit durchaus ein kritisches Potenzial hineinlegen, wenn sie üblicherweise an der Verteilungsproblematik ansetzen.

      Chancengleichheit

      Dies versuchen die aktuellen Gerechtigkeitsdiskurse vornehmlich in einem Rekurs auf die Chancengleichheit. Auch hierbei geht es ja im Kern um Austauschprozesse mit dem Ziel der Umverteilung von Gütern und Leistungen zum Zweck der Kompensation ungleicher Ausgangsbedingungen. Ob und inwieweit damit jedoch wirklich der erhoffte Durchbruch in der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gelungen ist, muss offen bleiben. Denn zunächst wäre einmal zu entscheiden, was mit Chance und was mit Chancengleichheit gemeint sein soll: Eine Chance kann in einer tatsächlichen Gelegenheit bestehen, das zu erhalten, was man angestrebt oder gewünscht hat, aber auch darin, dass eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass der angestrebte Erfolg eintritt. Chancengleichheit wiederum kann man in Bezug auf die Lebensaussichten oder auch mit Blick auf den Mittelgebrauch zur Erreichung eines Ziels annehmen (Ritsert 1997, 81). Das Problem ist also, dass Chance und Chancengleichheit über keine hinlänglich ausgeprägte begriffliche Schärfe verfügen. Um es in der praktischen Konsequenz deutlich zu machen:

      In der Bundesrepublik stehen weiterführende Schularten und höhere Bildungseinrichtungen den Kindern aus allen sozialen Schichten gleichermaßen offen. Verfügen Eltern über ein weniger hohes Einkommen, so erhalten ihre Kinder für die Zeit ihres Studiums sogar eine staatliche Ausbildungsförderung. Dennoch besteht, wie es der Bildungssoziologe Wulf Hopf formuliert, eine „auffällig enge Koppelung des Bildungserfolgs an den Schichtstatus der Familie“ (Hopf 2010, 21). Besteht also eine Gleichheit der Bildungschancen in Deutschland?

      Das Nachdenken darüber, wie diese und viele ähnliche mehr oder weniger vertrackten Gerechtigkeitskonstellationen theoretisch wie praktisch aufgelöst werden können, bringt uns jenes Spannungsverhältnis zu Bewusstsein, in dem sich der Einzelne mit seinen je individuellen Freiheitsansprüchen und die Gesamtgesellschaft mit ihrem Bedürfnis nach einem für ihre innere Stabilität jeweils notwendigen Maß an Gleichheit / Gerechtigkeit zueinander befinden. Um es an den idealtypisch konstruierten Extremfällen (vgl. auch Radbruch 1932, 67) deutlich zu machen: In einer anarchistisch, radikal-liberal verfassten Gesellschaft mag der Einzelne über ein Höchstmaß an individueller Freiheit verfügen; eine gesellschaftliche Bindung, wie sie von Gleichheit und Gerechtigkeit ausgeht, wird man in ihr jedoch weitgehend vermissen. Umgekehrt verfügen sozialistische Gesellschaften leninistischer oder maoistischer Provenienz über eine vergleichsweise große gesellschaftliche Homogenität, also Gleichheit, jedoch kaum über individuelle Freiheiten für ihre Bürger.

      Capability Approach

      Eine Auflösung dieses Dilemmas wird aktuell vor allem vom sog. Fähigkeitsbzw. Verwirklichungsansatz (Capability Approach) erwartet, der u. a. auf den Ökonomen Amatya Sen und die Sozialphilosophin Martha Nussbaum zurückgeht. Begründet sind derartige Erwartungen dadurch, dass in diesem Ansatz der Chancengleichheits- und der Freiheitsaspekt insoweit zusammengeführt sind, als Freiheit als Chance der Menschen verstanden wird, jene Ziele verfolgen zu können, die sie sich vernünftigerweise gesetzt haben. Chancen hängen daher eng mit ihren individuellen, freilich sozial geprägten Fähigkeiten zusammen, also damit, wie die Befähigung einer Person beschaffen ist, „die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund (Hervorhebung d. Verf.) hochschätzt“ (Sen 2010, 253 ff. u. 259). Es ist dies nicht der Ort, den Capability Approach, der vor allem auch innerhalb entwicklungspolitischer Diskurse eine herausragende Bedeutung erlangt hat, einer umfassenden Kritik zu unterziehen. Unter den hier relevanten Gesichtspunkten soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass der Fähigkeitsansatz selbst nach Einschätzung seiner Protagonisten zwar sagt, was unter seinen Gesichtspunkten gerecht oder ungerecht ist, er aber keinen entscheidenden Anknüpfungspunkt für die institutionelle Verankerung von Gerechtigkeitsregeln bietet (Sen 2010, 260). Eindrucksvoll macht Sen dies in seinem mittlerweile schon bekannten Gleichnis von den drei Kindern und der Flöte deutlich. In ihm geht es darum, unter Gerechtigkeitsaspekten zu entscheiden, welches der drei Kinder die eine zur Verfügung stehende Flöte bekommen soll. Jedes der Kinder hat gute Gründe, sie für sich zu beanspruchen: das erste, weil es die Flöte hergestellt hat, das zweite, weil keines der beiden anderen Kinder auf ihr zu spielen vermag, und das dritte, weil es als einziges von den dreien so arm ist, dass es, bekäme es die Flöte nicht, kein anderes Spielzeug besäße (Sen 2010, 41 ff.). Es liegt auf der Hand, dass es für eine derartige Konstellation nicht die Lösung, sondern immer nur gute Argumente für eine der Optionen (und damit zugleich gegen die beiden anderen) geben kann.

      Gerechtigkeit als Fairness

      Die nach wie vor wohl einflussreichste Gerechtigkeitstheorie innerhalb der sozialtheoretischen Diskurse stammt von dem 2002 verstorbenen amerikanischen Moralphilosophen John Rawls, der sie erstmals 1971 als „A Theory of Justice“ (dt.: Rawls 1979) vorlegte. Ihre außerordentliche Anziehungskraft verdankt sie vor allem dem Umstand, dass sie die liberale Freiheitsidee und die sozialstaatliche Idee des Ausgleichs sozialer Ungleichheit zumindest im Ansatz auf institutioneller Ebene zusammenbringt. Sie bietet damit nicht nur gemeinsame Anknüpfungspunkte für ansonsten recht unterschiedliche politische Strömungen und theoretische Denkrichtungen, sondern zielt eben auch und vor allem sehr genau auf konkrete Gerechtigkeitspotenziale (und -defizite!) moderner Gesellschaften. Auf den Punkt gebracht ist sie in zwei Gerechtigkeitsprinzipien, die in einem Neuentwurf, der 2001 unter dem Titel „Justice as Fairness“ erschien, wie folgt lauten (Rawls 2003, 78):

      a) Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.

      b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter den Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).

      Vervollständigt werden diese beiden Prinzipien noch durch zwei Vorrangsregeln. Die eine lautet, dass das erste Prinzip gegenüber dem zweiten Vorrang hat. Weiterhin hat innerhalb des zweiten Prinzips die Chancengleichheit Vorrang vor dem Differenzprinzip (Rawls 2003, 78). Diese Gerechtigkeitskonzeption soll Basisnormen für eine gerechte Gesellschaft aufstellen und begründen, die von der Ausgangsfrage her formulieren sollen, was „freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (Rawls 1979, 28). Deshalb auch muss in ihr das Freiheitsprinzip Vorrang haben, weil nämlich erst die Gleichheit der politischen Freiheit und der Gedankenfreiheit den Bürgern die Möglichkeit geben zu bestimmen, wie die Gerechtigkeitsstruktur ihrer Gesellschaft gestaltet sein soll (vgl. Rawls 2003, 81 f., 130 f.).

      Im zweiten Prinzip wird das Problem der Verteilungsgerechtigkeit formuliert. Es besteht darin, wie „langfristig und generationenübergreifend ein faires, leistungsfähiges und produktives System der Kooperation aufrechterhalten werden kann“ (Rawls 2003, 88). Hierauf gibt Rawls zwei Antworten: Zunächst durch eine faire Chancengleichheit nicht nur in dem Sinne, dass öffentliche Ämter und soziale Positionen formal allen gleichermaßen offenstehen, sondern darüber hinaus, dass alle eine faire Chance haben sollen, diese Ämter und Positionen auch tatsächlich zu bekleiden. Die institutionelle Herstellung einer derartigen Chancengleichheit stellt sich Rawls konsequenterweise wiederum marktförmig vor (Rawls 2003, 79 f.). Soziale und ökonomische Ungleichheit zwischen Menschen, die im Ergebnis hieraus entsteht, ist dann nicht ungerecht, denn sie ist nicht nur „nötig oder überaus effizient (…), wenn es darum geht, im Rahmen eines modernen Staates die Wirtschaftsordnung funktionsfähig zu erhalten“, sondern zudem auch moralisch gerechtfertigt, insofern als diejenigen, die ihre Chancen besser genutzt haben als andere, höhere Ansprüche auch tatsächlich verdient haben (Rawls 2003, 128 f.).

      Während das erste Gerechtigkeitsprinzip für die Freiheitslosung und das Prinzip der fairen Chancengleichheit für die Gleichheitslosung der Französischen Revolution stehen, will das Differenzprinzip die Forderung nach Brüderlichkeit