So ist der Exodus in der Geschichtstheologie des Deuteronomismus, also des Buches Deuteronomium und der davon inspirierten Literatur des Alten Testaments, zu einem grundlegenden Credo ausgestaltet worden, das Jahwes Gabe und Israels Aufgabe zugleich beschreibt. Seinen beispiellosen Aufstieg verdankt das Credo offenbar der Tatsache, dass mit ihm ein Lebens- und Glaubensgrund formuliert werden konnte, der in der jüdischen Gemeinde des zweiten Tempels, die auf den Zusammenbruch des Staates und der traditionellen Nationalreligion der Königszeit zurückblickte, neuen Halt bot. Dass man dabei auf die vorstaatliche Urzeit zurückgriff und den Gedanken der »Freiheit« in den Vordergrund rückte, ist kein Zufall. Man wird sicher nicht so weit gehen dürfen, die mit dem Exoduscredo evozierten Vorstellungen von »Freiheit« und »Befreiung« unmittelbar zeitgeschichtlich auszudeuten. Aber es ist doch mehr als auffällig, dass die jüdische Gemeinde in Zeiten der äußeren Bedrängnis und inneren Bescheidung verstärkt von einem |28|befreienden Gott spricht, der sein Volk aus der Knechtschaft erlöst hat – und, so die Erwartung, auch künftig erlösen wird.
So wird Ägypten – namentlich im Buch Deuteronomium – nach und nach zu einem Symbol, zu einer Chiffre für Not, Unfreiheit und Elend jeglicher Art. Hier hat die Rede vom »Sklavenhaus« Ägypten (vgl. den Dekalog: Ex 20,2; Dtn 5,6) ihren Ort, die – wie oben bereits gesehen – sogar als Grundlegung der Ethik dienen kann: »Denkt daran, dass ihr selbst einst Sklaven in Ägypten wart!« (Dtn 5,15). Aus der kollektiven Erinnerungserfahrung der Befreiung folgt, wie der Dekalog im Einzelnen veranschaulicht, die Verpflichtung zum Einhalten der göttlichen Gebote (vgl. Hermisson 1985: 141–145; Köckert 2007: 44–48, 68–72). Befreiung und Verpflichtung gehören untrennbar zusammen; eine bindungslose Freiheit ist ausgeschlossen.
Doch die Reflexions- und Aktualisierungsleistung des Deuteronomismus geht noch weiter. Ein Beispiel aus einer späten literarhistorischen Stufe im Buch Deuteronomium: »Nicht weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker, hat sich Jahwe an euch gehängt und euch erwählt – denn ihr seid das kleinste unter den Völkern –, sondern weil Jahwe euch liebt und seinen Eid hält, den er euren Vätern geschworen hat, hat Jahwe euch mit starker Hand aus Ägypten herausgeführt und dich freigekauft aus dem Sklavenhaus, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten« (Dtn 7,7f.). Mit einem geschickten Kunstgriff gelingt es dem Verfasser, Vergangenheit und Gegenwart eins werden zu lassen, zur Deckung zu bringen. Die jüdische Glaubensgemeinde wird mit der Exodusgeneration gleichzeitig. Und dieser Gemeinde wird Unerhörtes ins Stammbuch geschrieben: Das Gottesvolk ist gewiss erwählt, doch es darf sich darauf nichts einbilden, denn vorzuweisen hat es rein gar nichts, weder Größe noch eigenes Verdienst. Es war nichts als die freie Gnade Gottes, der das Volk seine Sonderstellung unter den Völkern verdankt. Ja, nicht einmal auf die Befreiungstat Gottes im Exodus darf sich Israel etwas einbilden. Denn der Exodus wird hier in charakteristischer Weise neu ausgelegt und aktualisiert: Er gibt die Richtung an, aus der das Heil kommt; es kommt ohne eigenes Verdienst und von außen, gewissermaßen sola gratia (»allein aus Gnade«), auf Israel zu. Die Befreiung, die der Exodus gewährt, steht |29|damit nicht mehr für ein äußerliches Auszugsgeschehen, sondern für das extra nos (»außerhalb von uns«) des Heils.
Das Alte Testament ist, so wird hier erkennbar, von einem wörtlichen, unmittelbaren Verständnis des Exodus weit entfernt. Wo es in theologisch produktiver Weise von ihm redet, redet es von der Freiheit als dem Lebensgrund des jüdischen Menschen, ja der jüdischen Gemeinde überhaupt. Und von der Freiheit Gottes zu reden, heißt, dem Menschen das extra nos seines Heils vor Augen zu führen. Dies geschieht explizit dort, wo »Ägypten« zur austauschbaren Chiffre für Bedrängnis jeglicher Art geworden ist: »Führe mich heraus aus dem Gefängnis, damit ich deinen Namen preise!« (Ps 142,8; vgl. auch Ps 25,15.17; 31,5; 66,12; 107,28). Hier sind nicht die Gefängnismauern aus Stein gemeint, sondern der Kerker des »in sich selbst verkrümmten Menschen« (homo incurvatus in se), der keinen Ausweg mehr weiß und deshalb aus seiner geistigen Not »herausgeführt« wird. In eine ähnliche Richtung weist der eschatologische Ausblick in Jes 61,1, wo den Elenden und Gefangenen die frohe Botschaft der »Befreiung« und »Freilassung« zugesprochen wird (vgl. Jes 35,10; 51,11; Ps 146,7). Die »Befreiungstheologie« des Exodus ist damit vollends von einem Ereignis der erinnerten Vergangenheit zum Signum einer sehnsüchtig erwarteten Zukunft geworden.
4. Politische und religiöse Freiheit
Dass sich die Exoduserzählung Ex 1–14 in ihrer vorliegenden Gestalt auch als eine politische Befreiungsgeschichte lesen lässt, belegt die jüngere Auslegungsgeschichte (vgl. Crüsemann 2001). Zu denken ist hier nicht nur an die lateinamerikanische Befreiungstheologie und ihre Rezeption in Mitteleuropa, sondern auch an die sozialgeschichtliche Wende in der Bibelwissenschaft in den 1970er Jahren, die Jahwe primär als einen Gott der politischen und sozialen Befreiung verstanden wissen wollte und in der Exodusüberlieferung ihren Schlüsseltext fand. Ja, der Exodus wurde in seiner Bedeutung nicht selten mit dem Bekenntnis zur Auferstehung Jesu im Neuen Testament verglichen und damit zu einem Leitmotiv des Alten Testaments erhoben. Eine nüchterne Betrachtung der Texte zeigt |30|indes, wie vielschichtig die Rede vom Exodus ist. Ohne Zweifel hat die Überlieferung – zumal die Erzählung Ex 1–14 – auch eine politische Dimension. So ist es eine ansprechende These, dass sich die Erzählung vom Exodus und seiner Leitfigur Mose kritisch und »subversiv« auf aktuelle politische Konstellationen beziehe. Mose etwa könnte bewusst als Gegenbild zum neuassyrischen Großkönig des 7. Jahrhunderts gezeichnet sein; auch die persische Reichsideologie des 5. und 4. Jahrhunderts mag ihre Spuren hinterlassen haben (vgl. Otto 2006: 35–64). In jedem Fall präsentiert die Exodusgeschichte eine, wenn man so will, theokratische Alternative zu bestehenden Herrschaftsformen, die natürlich auch herrschaftskritisch verstanden sein möchte. Die »Idee« von Freiheit als Befreiung von Fremdherrschaft ist in der Exoduserzählung also durchaus angelegt. Damit ist das griechische Verständnis von Freiheit als politischer Autonomie zwar noch nicht erreicht, aber doch in gewisser Weise vorbereitet.
Politische Freiheit als Unabhängigkeit von fremder Herrschaft wird erst in der Geschichtsschreibung der jüdisch-hellenistischen Zeit – namentlich in den ersten beiden Makkabäerbüchern – zu einem eigenen Thema ausgestaltet. Nach der Darstellung dieser beiden Geschichtsbücher kam es im 2. Jahrhundert v.Chr. infolge massiver Hellenisierungsbestrebungen der seleukidischen Herrscher (vor allem durch Antiochos IV.) in Judäa zu einer national-religiösen Revolte gegen die Fremdherrschaft (seit 166 v.Chr.). Sie wurde angeführt von der Familie der Makkabäer (bzw. später Hasmonäer), der es in teils zermürbenden militärischen Auseinandersetzungen gelang, nicht nur die Wiedereinweihung des Tempels (»Chanukkah«, 164 v.Chr.) zu erreichen, sondern im Laufe der Zeit Schritt für Schritt ein eigenständiges und autonomes Königtum in Judäa (faktisch seit 129 v.Chr.) zu errichten (vgl. 1Makk 14,26; 15,7). Auch wenn sich die Freiheitskämpfe der Makkabäer nach der Darstellung der beiden Bücher primär gegen die hellenistische Politik der Seleukiden, aber auch der liberalen, hellenistisch gesinnten Juden in den eigenen Reihen richteten, so ist nicht zu übersehen, dass sich das Freiheitsverständnis ganz dem griechischen Denken verdankt (vgl. Kaiser 2003: 195–198). Dies lässt sich etwa an 1Makk 2,7–13, einer Klage darüber, dass Jerusalem von einer »Freien« zu einer »Sklavin« |31|geworden ist, ablesen, aber auch an der feierlichen Abschiedsrede des Priesters Mattatias an seine Söhne in 1Makk 2,49–68. Der Kampf um das Gesetz wird hier als ein heroischer Befreiungskampf stilisiert, der unsterblichen Ruhm zeitigen wird. Judas, der Anführer der Makkabäer, erscheint in der Erzählung beinahe wie ein antiker Freiheitsheld. Im 2. Makkabäerbuch schließlich wird erstmals die Sammlung und Heimführung der Diaspora mit dem griechischen Verb ἐλευθερόω (»befreien«) bezeichnet und als göttliche Befreiungstat verstanden: »Befreie die unter den Völkern Versklavten« (2Makk 1,27). Politische Autonomie und religiöse Freiheit bilden in den Makkabäerkämpfen also eine untrennbare Einheit, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass die hasmonäischen Könige zeitweise zugleich das Hohepriesteramt in Jerusalem ausübten.
Als eine ideengeschichtlich gesehen milde Vorstufe der hier skizzierten politisch-religiösen Freiheit kann man das Konzept der persischen Reichsautorisation betrachten (vgl. Frei/Koch 1996). Darunter versteht man