3.1. Die Korintherbriefe: Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit
In den Briefen an die Gemeinde in Korinth integriert Paulus erstmals und möglicherweise angeregt durch die Vorkommnisse und Bewegungen innerhalb der Gemeinde die Freiheitsthematik in seine Ausführungen. Die Entdifferenzierungsformel in 1Kor 7,19; Gal 3,28; 5,6; 6,15 (vgl. Vollenweider 1997: 503), die ein emanzipatorisches Denken für Sklaven gegenüber Freien, Frauen gegenüber Männern und Heiden gegenüber Juden anregen konnte, stellte die Frage nach der sozialen Wirklichkeit dieser neu gewonnenen Freiheit in Christus. Ein Reflex dieser Diskussion spiegelt sich auch in dem zweimal zitierten Schlagwort »alles ist (mir) erlaubt«, das von Paulus sogleich mit dem Zusatz, »aber nicht alles dient zum Guten« kommentiert wird (1Kor 6,12; 10,23). Es ist vom Kontext beider Stellen her nicht deutlich, auf welche Verhaltensweisen in Korinth dieses Schlagwort appliziert wurde. Jedenfalls war es eine Übertreibung der älteren Forschung, von diesem Schlagwort aus die korinthischen Christinnen und Christen zu Libertinisten im Sinne des griechischen »Tun, wie ich will« oder zu Gnostikern mit absolut weltlicher Indifferenz zu erklären. Wohl aber stellte sich von der Entdifferenzierungsformel her die Frage, welche Auswirkungen die Freiheit etwa für die christlichen Sklaven innerhalb der Gemeinde haben konnte und wie sie auf bestehende Normen im sozialen Zusammenleben (vgl. 1Kor 10,29) wirkte.
In 1Kor 7 bespricht Paulus das Verhältnis bestehender Lebensformen (Ehe, Ehelosigkeit, Witwenschaft, Mischehe, Jungfräulichkeit) zur Berufung oder zur Christwerdung (vgl. 1Kor 7,17) und er scheint hierbei zumindest teilweise auf Anfragen aus Korinth einzugehen (vgl. 1Kor 7,1a). Die Grundlinie dieses Abschnitts und der Argumentation des Paulus liegt in der wiederholt vorgetragenen Aufforderung, in dem gegenwärtigen sozialen und persönlichen |46|Stand zu bleiben (μένειν/»bleiben in«, vgl. 1Kor 7,8.11.20.24.40). Sie soll nicht nur in Korinth, sondern in allen Gemeinden gelten (vgl. 1Kor 7,17b). Freilich sind die sozialen Gegebenheiten nicht absolut festgeschrieben, denn die individuelle Ausrichtung (vgl. 1Kor 7,7), das Triebleben des Einzelnen (vgl. 1Kor 7,9) oder auch der Wille zur Ehescheidung (vgl. 1Kor 7,15) werden berücksichtigt. In diesen Abschnitt ist eine Stellungnahme zu dem denkbaren Fall eingeflochten, dass ein Christ gewordener Sklave die Freilassung erhalten kann (vgl. 1Kor 7,21–23). Soll er sie ergreifen oder ausschlagen? Μᾶλλον χρῆσαι (»nutze es umso mehr«) – rät Paulus, und das bezieht sich wohl auf die Freiheit und nicht auf den Verbleib in der Sklaverei. In diesem Fall ist die durchaus denkbare Ausnahmesituation der Sklavenfreilassung konstruiert. Sollte sie sich ergeben, so darf der Sklave diese Freiheit ergreifen. Es wäre schwer vorstellbar, dass Paulus selbst unter diesen beschriebenen Voraussetzungen zum Bleiben im Sklavenstand auffordern würde. Gleichwohl gilt grundsätzlich die Anweisung, dass der zur christlichen Gemeinde gehörige Sklave sich aus seinem sozialen Stand nichts machen soll, sondern ihn akzeptieren darf (vgl. 1Kor 7,21a). Zur Begründung der hier gebotenen Optionen führt Paulus die Paradoxie an, dass der im Herrn berufene Sklave ein Freigelassener des Herrn ist gleichwie der als Freier Berufene ein Sklave Christi (vgl. 1Kor 7,22). Freiheit besteht und realisiert sich demnach erst in der Bindung an Christus. Für beide Stände – den Freien und den Sklaven – gilt, dass das Erlösungswerk Christi als ein Loskauf oder ein Befreiungsgeschehen interpretiert wird, das ein Verhältnis der Knechtschaft beendet (vgl. 1Kor 7,23). Diese Unabhängigkeit und Freiheit, die zugleich die neue Bindung an Christus impliziert, ist folglich höher zu bewerten als das emanzipatorische Ideal der faktischen, durch Standesänderung erwirkten Freiheit.
Noch deutlicher als in diesen Ausführungen zur Sklavenfrage bewegt sich Paulus im Blick auf sein eigenes Apostolat in 1Kor 9 in einem hellenistischen Verständnis von Freiheit. Er ist möglicherweise durch seinen freiwilligen Verzicht auf das Essen von Götzenopferfleisch (vgl. 1Kor 8,13) angeregt, zu diesem Thema, das er in 1Kor 8,1–13 begonnen hat und in 1Kor 10,1–11,1 fortführt, eine exkursartige Bestimmung seiner eigenen apostolischen Freiheit darzulegen.|47| Diese soll freilich der korinthischen Gemeinde für ihren Umgang miteinander als Vorbild dienen (vgl. 1Kor 11,1), insofern sich im Verzicht auf bestimmte Speisen eine Rücksichtnahme auf das Gewissen anderer Gemeindeglieder bekundet. Ausgangspunkt der Darlegungen ist der an sich ungewöhnliche und ihn von anderen Aposteln unterscheidende Verzicht des Paulus auf den apostolischen Unterhalt durch die Gemeinden und auf weitere Rechte (vgl. 1Kor 9,15; vgl. dazu 1Thess 2,9; 2Kor 11,7–10; Phil 4,10–20). Dies geschah, so legt 1Kor 9,19 dar, in einer freiwilligen Entscheidung und in der Absicht, auf diese Weise missionarisch erfolgreicher zu sein. Nur der Freie kann sich aus eigener Entscheidung in eine Bindung begeben (vgl. 1Kor 9,19). Paulus versteht seine Wirksamkeit grundsätzlich aus einer Bindung an Christus heraus, die er sogar als ἀνάγκη (»Zwang«) anspricht (vgl. 1Kor 9,16). Im Rahmen dieser Bindung bewegt sich die Freiheit zum Verzicht auf Unterhalt. Ausgehend von einer differenzierten Entfaltung der apostolischen Freiheit als einer Bindung an Christus wird die den Darlegungen einleitend vorangestellte Frage »Bin ich nicht frei (oder: ein Freier)?« (1Kor 9,1) beantwortet.
In der Beschreibung dieser Freiheit bewegt Paulus sich mehrfach in großer Nähe zu hellenistischen Freiheitskonzeptionen (vgl. Vollenweider 1989: 199–220). Kennzeichen des wahren Philosophen ist in sokratischer Tradition die finanzielle Unabhängigkeit. Xenophon schreibt über Sokrates: »Wer aber Wert auf den Umgang mit ihm legte, von dem nahm er kein Geld. Dadurch glaubte er unabhängiger zu sein. Er nannte Männer, die aus ihrer Lehrtätigkeit ein Geldgeschäft machten, Verkäufer der Freiheit ihrer Person« (Xenophon, Memorabilia I 2,5–7; vgl. außerdem zur Sache auch Seneca, Ad Lucilium Epistulae Morales 108,36). Auch der Verweis auf die ἀνάγκη (vgl. 1Kor 9,16) entstammt der Diskussionslage hellenistischer Freiheitskonzeptionen, denn Zwang und Unfreiheit stellen klassischerweise den Gegensatz schlechthin zur Freiheit dar. Die Interpretation dieses Begriffs in positiver Weise als Bindung an Christus verleiht dem apostolischen Dienst eine Freiheit gerade in der ἀνάγκη. Freiheit und Zwang werden dabei nicht synonym gedacht, wohl aber realisiert sich die Freiheit in der Knechtschaft Christi. Diese Freiheit wird schließlich in einer solch engen Bindung|48| an Christus als ἔννομος Χριστοῦ (»im Gesetz Christi sein«) beschrieben, dass die notwendige Folge eine Relativierung des bestehenden, faktischen νόμος (»Gesetzes«) ist (vgl. 1Kor 9,20f.). Da Paulus in seinem missionarischen Verhalten eine Anpassung an das Gegenüber, seien es Juden, seien es Heiden, praktiziert, etabliert er hiermit ein unumkehrbares Gefälle vom Evangelium zum Gesetz (vgl. Vollenweider 1989: 215).
Die Verknüpfung von Freiheit mit dem Geist des κύριος (»Herr«) bietet Paulus in einer Gnome in 2Kor 3,17b in einem Kontext (2Kor 2,14–4,6), in dem er eine Apologie seines Apostolats entfaltet. Gegenüber Gegnern, die ihm mangelndes Pneumatikertum vorhalten und ihrerseits auf Empfehlungsbriefe zurückgreifen (vgl. 2Kor 3,1), arbeitet Paulus die Antithetik von einerseits Steintafeln und tötendem Buchstaben, andererseits aber lebendig machendem Geist und Freiheit aus. Hierbei greift er auf Ex 34,29–35 zurück, einen Text, der eventuell für die Gegner leitend war und durch sie in die Diskussion eingebracht wurde, der aber daneben bereits in der jüdischen Auslegung intensiv bedacht worden war. Möglicherweise hatte schon sie die Gesetzestafeln oder das Gesetz mit Freiheit verbunden. Darauf deutet die rabbinische Auslegung von Ex 32,16 hin, in der das Studium der Gesetzestafeln mit Freiheit verknüpft worden ist (vgl. mAv 6,2). Demgegenüber orientiert sich die Auslegung des Paulus zunächst an der Decke, die Mose auf sein Angesicht legt, wenn er mit dem Volk spricht. Diesem Brauch unterstellt Paulus zunächst eine Irreführung – das Volk soll das Verblassen des Glanzes auf Moses Angesicht nicht bemerken –; sodann verbindet er ihn mit einer mehrfachen Verstockung Israels, denn diese Decke liegt auf der Verlesung der Schriften des alten Bundes und auf den Herzen der Israeliten. Erst in der Bekehrung zum Herrn, die hier für Mose gedacht wird (vgl. 2Kor 3,16), wird diese Decke entfernt und ein freier Zugang zum κύριος ermöglicht. War in der jüdischen Überlieferung ein himmlischer Aufstieg Moses beschrieben und – paradigmatisch für das Volk – als möglich dargestellt, so erklärt die Auslegung des Paulus demgegenüber die Bindung des Mose an die Gesetzestafeln als todbringend,